1. Notfalltaschentücher

62 8 0
                                    

Er taumelte vor mir ein wenig nach links an die Backsteinmauer, an der er sich schließlich festhielt. Wow. Das nannte ich ein Gespräch. Da wollte man nur nach der Uhrzeit fragen und schon fiel der nächstbeste in Ohnmacht.
Ich konnte nur noch sehen, wie er an der Wand links neben ihm herunterglitt, als konnten ihn seine Beine nicht mehr tragen. Sein ungewöhnlich schneller und ungleichmäßiger Atem war deutlich zu hören. Nun drückte er sich seine Handballen gegen die Stirn, als er sitzend an der Mauer lehnte.
"Hey...ähm...alles okay?"
Der dunkelhaarige Typ, ich schätzte sein Alter auf 16 oder 17, schaute mich weder an, noch antwortete er mir. "Okay, es ist offensichtlich, dass es dir nicht gut geht, aber kannst du mir sagen, ob ich dir einen Krankenwagen rufen soll, oder ob du einfach nur müde bist, weil du gestern zu lange wach warst", fragte ich nun mit einem Hauch Ironie. Als dann aber plötzlich Blut aus seiner Nase seine Lippe herunter in seinen leicht geöffneten Mund lief, wurde ich schlagartig Ernst:
"Wenn du dir nicht helfen lassen willst, dann sag' mir das bitte, damit ich meine Zeit hier nicht verschwende. Deine Nase blutet, warum auch immer... Jedenfalls wäre es jetzt glaube ich ganz angemessen -"
"Lass mich, okay?", unterbrach er mich mit seiner tiefen rauen Stimme. Er fasste sich mit zwei Fingern an die Oberlippe und betrachtete dann das dunkle Blut, das sie zierte. Mit der freien Hand fuhr er sich durch sein kurzes dunkles Haar. Es folgte ein finsterer Blick in meine Richtung. Ich schaute ihm in seine Augen, und versuchte die Farbe dessen zu identifizieren, was mir bei der Dunkelheit an diesem Morgen schwer fiel. Sein Blick fiel wieder auf seine Finger. Er stöhnte kurz auf bevor er fragte: "Hast du 'n Taschentuch?" Seine Stimme klang nun genauso finster und dennoch irgendwie hilflos, wie sein Blick zuvor. Obwohl er meine Hilfe zuvor ziemlich deutlich abgwiesen hatte und ich eigentlich nicht vor hatte mich länger mit ihm aufzuhalten und meine Zeit zu verschwenden, schaffte es meine hilfsbereite Seite irgendwie doch mich dazu zu überreden ihm zu helfen. Also nickte ich und kramte kurz in meinem Rucksack nach der Packung Taschentücher, die ich für Notfälle immer bei mir trug und reichte ihm schließlich eines daraus, das er ohne zu zögern aus meiner Hand nahm und sich unter die Nase hielt.
"Bitteschön", wies ich ihn darauf hin, dass er sich nicht dafür bedankt hatte. Aber er legte das Taschentuch nur neu an und schloss daraufhin schmerzverzerrt seine Augen. So unfreundlich er auch auf mich wirkte, irgendetwas zwang mich dazu, ihn zu helfen. So kniete ich mich zu ihm herunter auf den kühlen feuchten Asphalt, ohne vorher darüber nachgedacht zu haben, stellte meinen Rucksack neben mir ab und reichte ihm schließlich meine Wasserflasche. "Trink einen Schluck... Vielleicht wird's dann besser...", schlug ich vor. "Geht schon, danke." Ich presste meine Lippen zu einem leichten Lächeln zusammen, nickte und steckte meine Flasche Wasser wieder zurück in meinen Rucksack. Dann stand ich auf und reichte ihm meine rechte Hand. Er zögerte kurz. Er griff schließlich doch nach ihr und zog sich an an mir hoch. Er war ungefähr einen Kopf größer als ich, weshalb ich ein kleines Stück zurück wich. Er schaute mich kurz an. Einer seiner Mundwinkel bewegte sich für einen kurzen Moment nach oben. Es war ein leichtes Zucken, was aussah wie ein Lächeln. Aber das konnte nicht sein. Wieso sollte ein Typ, der sich nicht einmal für ein Taschentuch bedankte bitte lächeln? "Kannst du alleine gehen?", fragte ich. Er nickte ohne mich dabei anzusehen. "Dann kannst du mich ja loslassen", wies ich ihn darauf hin, dass er sich an meinem Oberarm festkrallte wie der Kater unserer Nachbarn vor kurzem, als ich ihn füttern musste, da diese sich mal wieder einen Strandurlaub erlaubten. Der fünfte in diesem Jahr. So lange lief ihr Kater Sokrates immer frei in der Nachbarschaft herum und ich kam nur ab und zu vorbei um ihm sein Futter an seinen Lieblingsort zu stellen.
"Du siehst nicht gut aus...", bezog ich mich auf seine geschwächte Körperhaltung und dazu passende Mimik. "Danke", fasste er das ganze etwas falsch auf. "So meinte ich das doch gar nicht." Ganz und gar nicht! Der - mir bis jetzt unbekannte - Typ, der sehr dicht an mir heran stand, sah sogar gar nicht so schlecht aus. Er hatte eine sehr sportliche Figur, breite Schultern, ein markantes Gesicht, kurze gestylte Haare und auch sein Kleidungsstil gefiel mir sehr. Er trug seine Jacke offen über einem Kapuzenpullover mit der Aufschrift "Champion", dazu eine Jeans und graue VANS. Seinen Rucksack hielt er an einem Riemen fest, hievte ihn dann aber mit Schwung über seine Schulter. "Auf welche Schule gehst du? Ich kann dich ja noch bis dorthin begleiten", fragte ich mit einem leicht besorgten Unterton. "Friedrich Ebert Gymnasium... am Ende der Straße, ich glaube, das schaffe ich auch alleine, danke." "Ich gehe auch auf diese Schule, wieso hab' dich da noch nie gesehen?" Sein genervter Blick verriet mir sofort, dass es mich nichts anging. Trotzdem hoffte ich weiter auf eine Antwort und untermalte dies mit einem erwartungsvollen Blick in seine Richtung. "Mein Vater arbeitet ab heute da und deshalb mussten wir hierher ziehen. Und weil es das einzige Gymnasium in der Umgebung ist, bin ich wohl auch hier gelandet. Zufrieden?" Er verdrehte seine Augen, stöhnte dann kurz auf, schloss dann schmerzverzerrt die Augen und fasste sich mit einer Hand an die Stirn. "Okay, ob du willst oder nicht, ich begleite dich auf dem Weg zur Schule und dann lässt du dir von 'nem Lehrer oder so helfen. Wenn dein Vater doch da arbeitet, warum nimmt der dich dann nicht mit zur Schule?"
"Was geht dich das an?", fragte er mich zurecht. Ohne, dass ich mich dazu nochmal geäußert hatte, antwortete er mir schließlich doch: "Wir haben uns gestritten... Wie gesagt, wir sind vor kurzem erst hierher gezogen und es ist einfach peinlich, wenn der eigene Vater... Ach, warum erzähle ich dir das eigentlich." Und auch wenn ich gar nichts dagegen hatte, fragte ich mich das auch. Allerdings wusste ich jetzt, weshalb ich ihn noch nie zuvor hier gesehen hatte. Er schien neu in der Stadt zu sein. Und er ging scheinbar auf dieselbe Schule wie ich. Genauso wie sein Vater, der, wie es aussah demnächst an der Schule arbeiten würde.
Aber das half weder mir noch ihm in dieser Situation weiter. Also konzentrierte ich mich nun darauf, den Typen an meiner Seite, aus dessen Nase immer noch Blut tropfte und dessen Namen ich immer noch nicht in Erfahrung gebracht hatte zur Schule zu bringen, wo wir wenigstens an mehr Taschentücher oder ähnliches kamen. "Sag' mal, wie heißt du eigentlich?", erklang plötzlich seine erschöpft klingende Stimme neben mir. "Ich bin -" "Kate! Ach, ist das schön dich wiederzusehen!", unterbrach mich die schrille, aber dennoch hochnäsige Stimme von Penelope aka "Meine Eltern kaufen mir alles, weil ich ihre Prinzessin bin" aka "Niemand sieht mich jemals ungeschminkt, außer mein Chihuahua". Ich gab ein einfaches "Hi" von mir und ging mit ihm am Handgelenk hinter mir her ziehend an ihr vorbei. Aber sie ließ nicht locker und folgte uns. Ich erhöhte mein Tempo ein wenig, wobei ich vergessen hatte, dass ich jemandes Hand hielt, der gerade eben noch zusammengeklappt war. Dieser machte auch schnell deutlich, dass er nicht mitkam. Ich drehte meinen Kopf in seine Richtung und an seinem Gesichtsausdruck konnte man schnell erkennen, dass es ihm gar nicht gut ging, allerdings würde Penelope uns jeden Moment einholen und sich sofort an ihn ranschmeißen. "Wieso geht ihr denn so schnell, willst du etwa nicht, dass ich deinen neuen Freund kennenlerne?", sagte sie arrogant und ich wusste sofort, dass sie mich nur damit aufziehen wollte. das Tat sie nämlich ständig, vor allem, wenn es um das männliche Geschlecht ging. Aber dieses Mal ignorierte ich sie einfach. Genau so, wie die Tatsache, dass sie auf der anderen Seite neben ihm herlief und seinen Körper musterte. "Willst du ihn mir nicht mal vorstellen, Katylein?" Nachdem ich kurz zögerte, begann ich schließlich: "Ich kenne ihn n-" "Ich bin ihr Cousin. Genau, ich bin vor kurzem hierher gezogen." Ich brauchte einen Moment, um zu verstehen, was er da gerade erzählte, spielte dann aber sofort mit. "Und weil er neu in der Stadt ist, habe ich mich dazu bereit erklärt, ihm unsere Schule zu zeigen", meinte ich sehr amüsiert. Und zum Teil stimmte das ja auch.

Wir hatten mittlerweile das Schulgebäude erreicht und waren kurz davor durch eine der Eingangstüren einztreten als er unser kleines Spielchen beendete: "Wir haben einen strengen Zeitplan einzuhalten, also wenn du uns entschuldigen würdest...", und sie schließlich abwimmelte ohne sich noch mit einem ihrer nervigen Kommentare dazu zu äußern.

Wie Nougat Pralinen mein Leben veränderten...Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt