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Ich holte eine Zigarette aus der Schachtel meiner Tasche und zündete sie mit meinem Zippo an. Das Zippo, was mir mein großartiger liebenswerter Onkel hinterlassen hatte. Ich wünschte er wäre hier, dann wäre so vieles anders... All das wäre nicht mehr so scheiße, meine Tante wäre nicht so ein grauenhaftes Monster, ich wäre nicht so ein seelisches Wrack und ich hätte jemanden mit dem ich sprechen könnte. So wie ich es all die Jahre getan habe, er war mein einziger Halt in dieser beschissenen Welt. Genauso wie Jack.

Aber was soll man machen? All das ist Vergangenheit und ich lebe in der Gegenwart, weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft. Ich zog erneut an meiner Zigarette und inhalierte den Rauch tief in meine Lunge. Nachdem ich ein letztes Mal daran zog und schnippte ich den Zigarettenstummel weg. Ich sah den Bus anhalten, beschleunigte meinen Schritt und konnte gerade noch hineinspringen bevor sich die Türen hinter mir quietschend schlossen. Der Busfahrer schaute mich genervt an und schnaubte verächtlich. Ich ignoriert das einfach, genauso wie alles andere was menschliche Reaktionen betraf, und lief zu einem freien Platz, der sich ganz hinten befand, wo ich mich hinsetzte.

Ich versank in meiner Musik, schloss die Augen und versuchte alle anderen Menschen die sich sonst noch in dem Bus niederließen zu ignorieren. Wie ich Menschen doch verachtete. Sie waren nichts außer egoistischen, selbstgefälligen, verlogenen Arschlöchern - zumindest  die meisten. Irgendwann wurde ich unsanft durch eine zu dolle Bremsung aus meinem kleinen Nickerchen gerissen. Sowas wie Mitgefühl konnte man von so einem Arsch, wie diesem Busfahrer der anscheinend alle Kinder und Jugendlichen hasste, allerdings aber auch nicht erwarten. Wieso wurden solche Leute Busfahrer, wenn sie sich doch bewusst waren, dass sie täglich mit Kindern umgehen mussten, sich konfrontieren und unterhalten mussten, wenn auch nur für wenige Worte. All das waren Gedanken, die mich täglich quälten. Warum, wozu, all das müsste mich doch eigentlich gar nicht beschäftigen. Ich hatte keinen Grund all das weiterhin zu ertragen.

Ich stieg aus dem Bus und ging den asphaltierten Weg zum Schulgebäude entlang. Ich wollte gerade um die Ecke gehen als ich Schritte hörte, doch als ich den Blick von meinem Handy hob war es bereits zu spät. Ich lief mit voller Geschwindigkeit in einen Jungen hinein und all meine und seine Sachen fielen zu Boden. Mein Handy knallte auf den harten Stein und ich fing an zu fluchen. "Alter, kannst du  nicht besser aufpassen?" zischte ich ihn an. "Hey, Babe chill mal." lachte er nur seelenruhig vor sich hin. Was erlaubte er sich eigentlich mit mir, niemand hat sich sowas mit mir je erlaubt. Was gab bitte gerade ihm das Recht so mit mir umzuspringen? Er war hübsch. Sehr hübsch sogar. Wenn ich ihn mir mal so anschaute, dann... Nein! Sky, du hast gestern noch wegen einem verdammt heißem Arschloch dir die Augen aus dem Kopf geweint. Du wirst die Finger von solchen Typen lassen. Obwohl einen Versuch war es wert, denn er starrte mich kurzzeitig mit offenem Mund an, genau die Reaktion die ich haben wollte. Doch als er bemerkte, dass ich ihn ansah und realisierte das er mich anstarrte, schüttelte er nur leicht den Kopf, wendete den Blick von mir ab, fuhr sich durch seine schokoladenbraunen Haare die perfekt nach oben gestylt waren. Danach schaute er mir tief in die Augen und sagte: "Hey, tut mir leid, kann ich dich auf einen Kaffee einladen?" Was war das denn bitte?  "Eben lachst du mich noch aus und jetzt willst du einen Kaffee mit mir trinken? Aber ja gerne." antwortete ich auf meiner Unterlippe kauend. "Eben machst du mich noch blöd an und jetzt willigst du mir auf ein Date ein?" konterte er grinsend. WOW, war sein Lächeln schön.

Klar, genau jetzt fing es an zu regnen. Er nahm meine Hand und wir rannten lachend durch den Regen bis unter das Vordach meiner Schule, wo wir bereits pitschnass ankamen. Wir beide prusteten los vor lachen und ich schüttelte meine Haare. Nach einer Weile verstummten wir wieder und schauten uns tief in die Augen, er zog deutlich hörbar die Luft ein. Seine Augen wurden dunkel und die Muskeln in meinem Unterleib zogen sich auf eine unheimlich starke Weise zusammen und ich schnappte augenblicklich nach Luft. Er trat einen Schritt näher und legte seine großen Hände um meine Taille, zog mich dichter an sich und beugte sich unmerklich ein kleines Stück zu mir herunter. Ich hob aus Reflex mein Kinn hoch und sah ihn an, schloss meine Augen und öffnete meine Lippen einen kleinen Spalt weit. Wie aus dem nichts berührten sich unsere Lippen und mich durchfuhr ein wunderbares Gefühl, so etwas hatte ich noch nie erlebt. Was machte dieser Junge nur mit mir?

Wir ließen nach einer Weile schwer atmend voneinander ab. Seine Augen waren dunkel und leuchteten fast, ich verlor mich in ihnen und ließ mich fallen. Ich fiel und fiel - doch es kam kein Boden. Denn seine Augen hielten mich fest.

"Bitte, bleib hier." flüsterte er. Was? Hatte er mich gerade gebeten zu bleiben? "Wieso? Was war das eben?" fragte ich ihn leicht stutzend. "Sky, ich weiß es nicht. Ich beobachte dich schon so lange, du bist ein so unerreichbares Mädchen für mich. Ich will dich. Es tut mir leid, wenn du den Kuss nicht wolltest, ich hätte es auch nicht getan, wenn dein Körper mir nicht gesagt hätte, dass du es willst." sagte er und seine Stimme wurde brüchig. "Was hat das alles zu bedeuten, was heißt du beobachtest mich schon länger, stalkst du mich etwa? Denkst du ich kann jetzt noch n' Kerl gebrauchen? Ich habe mich doch gerade erst von Jackson getrennt. Ich bin keine Schlampe, die du einfach so rumkriegst, wie du es anscheinend denkst." brachte ich ein wenig zu abwertend rüber was ich eigentlich gar nicht wollte. Scheiße, Sky! Das hast du ja mal wieder toll hinbekommen. Schnauzte mich mein Unterbewusstsein über den Rand seiner Leserbrille hinwegsehend, an. Als ich seinen zutiefst schmerzerfüllten, eingeschüchterten Blick wahrnahm.

Ich sah an seinem schmerzerfüllten Gesichtsausdruck, den er versucht so gut es möglich war zu überspielen, dass meine Worte tiefer gesessen hatten, als es beabsichtigt war. "Hey, so meinte ich das gar nicht. Ich.." weiter kam ich nicht, denn ich wurde von seinem leisen, traurigen Flüstern unterbrochen. "Lass es gut sein, Skylar, ist schon ok, ich hab's kapiert. Ich habe verstanden was du von mir denkst und was du von einem anscheinend unmöglichen uns hältst, was ich mir ohnehin viel zu lange ausgemalt habe. Ich hätte das vorher wissen sollen und hätte nicht so naiv sein sollen und glauben das du jemals dich nur eine Sekunde mit sowas wie mir ernsthaft abgeben würdest und ich mehr für dich als ein One Night Stand wäre." Nein, nein, nein! Bitte nicht, scheiße was habe ich mit meinem gefühlslosem Mundwerk nur wieder mal angerichtet. Eine Welle der Trauer überkam mich und zerriss mich innerlich in tausende von Teilen, die alle zerstreut auf dem Schulhof lagen und darauf warteten vom Hausmeister zu einem kleinen Häufchen Elend zusammengefegt zu werden.

"Bitte, wie immer du auch heißen magst, gib mir eine Chance das zu erklären. Bitte, geh nicht." flehte ich ihn förmlich an. Scheiße, Sky, wozu lässt du dich hier eigentlich gerade erniedrigen? "Nein, ich glaube es ist alles gesagt. Du hast deine Meinung ehrlich und ich denke deutlich genug zum Ausdruck gebracht." sagte er zu mir. "Nein, das stimmt nicht. Ich bitte dich, geh nicht! Bitte, lass es mich doch erklären!" flehte ich erneut. Was ist eigentlich wenn er dich nur verarscht und all das hier nur eine blöde Show ist um allen stolz davon erzählen zu können was für eine erbärmliche, leicht rumzukriegende, verletzliche, arrogante Schlampe ich doch war? "Nein Sky, ich werde jetzt gehen." sagte er, drehte sich um und ging. Ich sah so verletzlich aus wie ich dort verlassen und allein im Regen stand.

Ich stand da, unter dem Vordach meiner Schule im platternden Regen und sah ihm hinterher. Dann drehte er sich noch mal um und sagte: "Übrigens, mein Name ist Damon Shade." Dann drehte er sich um und ging seines Wegs. Ich stand da, mutterseelenallein und war kurz davor zusammenzubrechen und bitterlich anzufangen zu weinen. In einem Meer aus Trauer, Tränen und Verzweiflung versinkend, sah ich seine vor meinen Augen verschwimmende Silhouette immer kleiner werden. Wie konnte das sein? Normalerweise schluckte ich diese Art Gefühle doch einfach herunter, wieso ging es jetzt nicht? Was machte, dass es dieses scheiß verdammte Mal nicht ging, gerade da wo es wichtig war, verdammt?

LostWo Geschichten leben. Entdecke jetzt