Prolog: Irgendwo in Dover

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Genau in dieser Nacht herrschte in Dover, einer bekannten Stadt in Großbritannien, ausnahmsweise ein für den Herbst eher untypisch laues Lüftchen. Dieses pustete Kleinigkeiten wie gefallene Blätter und achtlos zur Seite geworfene Süßwarenverpackungen durch die Straßen der Stadt und bat für jeden Besucher das perfekte Wetter für einen Nachtspaziergang. Der Geruch von Regen lag immer noch in der Luft, aber die Gewitterwolken hatten sich schon längst verzogen. Sie waren ihren gesamten Ballast aus kaltem Regen, sowie ein paar Blitzen losgeworden. Jede einzelne Wolke hatte sich von einem bedrohlich dunklen Etwas in ein zart wirkendes, helles Objekt verwandelt, das der bauschigen, weißen Wolle eines Schäfchens glich. Für alle Wolken bestand nun kein Grund mehr, über den Dächern Dovers zu verweilen, daher setzten sie ihre Reise fort und ließen sich vom Wind in eine andere Richtung tragen.

Alles, was blieb, war der sternenlose, schwarze Himmel, dem nur die Straßenlaternen, die wirr planlos im Stadtteil verteilt worden waren, zu trotzen vermochten. Leider waren sie nicht dazu imstande, die fehlenden Sterne zu ersetzen, ihr spärliches Licht beleuchtete nur wenige der unzähligen Gassen des eher abgelegenen Teil Dovers. Vielleicht war das der Grund dafür, warum sich außer den Krähen, Insekten und anderen Klischee-Unglücksboten niemand anderes hierher traute. Die Stille des Viertels war fast schon gespenstisch, sie bot viel zu viel Zeit für den einen oder anderen Gedanken, den man gerne wieder am hellen Tag wegschob. Die Tatsache, dass hier öfters Nebelschwaden gerne stillgelegte Fabriken, den ein oder anderen Teich und leere Läden zum Versteckspiel einluden, machte es auch nicht besser. Der plötzliche Ausfall einer Straßenlaterne war kein ungewöhnlicher Anblick. Genauso wenig wie leer gefegte Straßen. Was dagegen jedoch selten vorkam, war, dass Schritte zu hören waren. Schritte, die Fußspuren in der matschig gewordenen Erde, die die angrenzenden Teiche umgab, hinterließen. Schritte, die sich ihren Weg vorbei an den leeren Läden und den stillgelegten Fabriken bahnten. Schritte, die von der Anwesenheit menschlichen Lebens zeugten.

Der erste Blick eines jeden freiwilligen oder gezwungenen Besuchers fiel zuerst auf ein paar rustikale Gebäude, die sich ordentlich aneinander reihten, so, als hätten sie nur auf Neulinge gewartet. Man bestaunte erst den Bau dieser Häuser, die wahrscheinlich seit Jahrzehnten tapfer jedem Sturm standhielten. Genau das würde jeder Tourist tun. Jeder typische Tourist zumindest.

Einem neugierigen Tourist würden sicherlich auch diese Gebäude auffallen, aber nach einem Marsch durch die vielen, sperrangeldürren Gassen würde er ein abgelegenes Gebäude, ganz versteckt hinter den großen Fabriken, entdecken, auf welches jeder andere Tourist niemals gestoßen wäre. Und mit einem Blick auf das neu entdeckte Objekt hatte ihn auch schon die Neugier ergriffen. Was wohl dort drin war? Es sah anders aus als die anderen Gebäude, ummantelt von Farbe, die einst wohl mal ein grelles Blau gewesen, aber nun langsam, aber sicher, schon am Abblättern war. Noch dazu wirkte es mit den kleinen Löchern in seinen Außenwänden mehr wie eine Ruine als ein intakter Bau. Wie ein kleiner, blauer Schweizer Käse inmitten von perfekt wirkenden Gebäuden.

Jeder Schritt des Touristen war nun wohl überlegt, als er sich diesem Haus näherte. Er musste vorsichtig sein, da es sich um Wohneigentum oder eine Fabrik handeln könnte. Allein für die Kletterpartie über den drei Meter hohen Metallzaun hätte er bereits büßen müssen, aber seine Neugierde machte ihn sowohl blind, als auch mutig. Trotz aller Anspannung, trotz seines sich beschleunigenden Herzschlages, war er verliebt in das angsteinflößende Gefühl namens Nervenkitzel. Der Tourist schlich langsam auf leisen Sohlen, über den mit Glassplittern und Staub übersäten Rasen zu dem zerstörten Fenster. Da die verstaubten Scheiben kaum Sicht auf das Innere des Baus boten, blickte der Tourist direkt durch eines der eingeschlagenen Löcher hindurch, um zu beäugen, was sich hinter den d dicken Mauern verbarg: Ein Raum, größer als eine simple Kammer, jedoch kleiner als eine Halle.

Inmitten dieses Raumes, der genauso heruntergekommen wie seine Möbelstücke aussah, stand ein schmales Bett mit einem darauf liegenden Mädchen. Ihr Gesicht glich dem Schnee, der nach dieser stürmischen Jahreszeit im Winter wiederkommen würde. Ein Teil der Farbe befand sich noch in ihrem Gesicht, was zeigte, dass sie sonst doch gerne am Bräunen war oder einfach von Natur aus eine dunklere Hautfarbe besaß. Ihre dunkelbraunen Haare hingen schlaff am Bett hinunter und kringelten sich am Ende zu Locken. Es sah so aus, als würde sie friedlich schlafen.

Das Mädchen, welches vor dem Bett stand, schaute sie ängstlich aus seinen dunkelblauen Augen an, während es sich durch das schwarze, gelockte Haar fuhr. Sie schien ziemlich nervös zu sein, denn sie lief ständig hin und her. Dann blieb sie vor dem Bett stehen, mit den Füßen auf und ab wippend. Was ihm auch aufgefallen war, war die Tatsache, dass das schwarzhaarige Mädchen ihren Blick kein einziges Mal von der Brünette gewendet hatte.

Der Tourist fragte sich, welche Beziehung die beiden wohl zu einander haben mussten. Waren sie Schwestern? Freundinnen? Bei genauerem Hinsehen bemerkte der Tourist die kleinen Details, die ihm vorher gar nicht aufgefallen waren:

Die Tränen, die sich langsam in den Augen des wandernden Mädchens formten, die sie sich aber schnell wieder weg wischte. Ihre Hände, die sie daraufhin zu Fäusten ballte. Kleine, zierliche, kaum sichtbare Schweißtropfen, die sich auf der Stirn der Schwarzhaarigen bildeten. Ihr Körper, der nicht so ruhig war, wie er zuvor gewirkt hatte, sondern zitterte und somit die Anspannung des Mädchens deutlich sichtbar machte. Der liebevolle Blick, den sie dem unbewussten Mädchen zuwarf, nachdem sie sich an die Kante des Bettes gesetzt und sie ihr Gesicht zugewandt hatte.

Danach war ein Murmeln zu hören. Er konnte ihre geflüsterten Worte kaum verstehen, die Lautstärke, mit der sie sprach, war niedrig, aber laut genug, um gestotterte Worte auszumachen. Es konnte sein, dass sie zu der Brünette sprach oder einfach nur sich selbst beruhigte. Das andere Mädchen musste ihr wichtig sein, das sah der Tourist schon ihrem Verhalten an.

Er wollte sich zum Gehen wenden, denn er hatte sicherlich noch andere Sachen zu tun. Für ihn ging das Leben weiter und seine Zeit war, wie die jedes Menschen, auf diesem Planeten war begrenzt. Dann, als sich der Tourist schon dazu entschlossen hatte, sich bald umzudrehen, tat sich endlich etwas: Das schwarzhaarige Mädchen strich dem anderen sanft mit der Hand über ihr herzförmiges Gesicht, entlang ihrer Wangen und fuhr die Konturen ihrer Lippen mit ihrem Zeigefinger nach. Wieso tat das andere Mädchen nichts? Sonst müsste es jetzt doch eigentlich davon aufwachen! Jetzt wurde es ihm bewusst, nach dieser Weile und diesen Anzeichen musste es jedem bewusst werden: Vielleicht würde das andere Mädchen nie wieder aufwachen.

Sofort wanderten die Augen des Touristen wieder zum anderen Mädchen und besahen es genauer: Der Oberkörper der Brünette befand sich im Gegensatz zu seinem Unterkörper nicht unterhalb der Decke und auf dem Shirt, ganz in der Nähe ihrer Brust, war deutlich ein roter Fleck zu sehen. Handelte es sich dabei tatsächlich um eine Schusswunde? Oder war er nur zu dramatisch und vermutete schon das Schlimmste?

Das schwarzhaarige Mädchen betrachtete ihr Gegenüber mit sichtlicher Sorge und näherte sich ihm nun langsam. Was machte sie da? Zur Überraschung des Touristen beugte sich das Mädchen vor und hauchte zart einen Kuss auf die Lippen des anderen. Diese Aktion schien deutlich mehr Wirkung auf das andere Mädchen zu haben, Farbe wich in sein Gesicht. Jeder andere Tourist hätte die beiden daraufhin alleine gelassen, vielleicht auch noch angewidert genickt.

Aber wirklich Neugierige hätten sich gefragt, wie es überhaupt zu dem ganzen Drama gekommen war und wie diese ganze Geschichte angefangen hatte.  

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