Der 1. Tag

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Esmee

Das Rauschen des naheliegenden Flusses weckte mich am nächsten Morgen. Gähnend setzte ich mich in meinem Bett auf und dachte über die Ereignisse der letzten Nacht nach, war es ein Traum gewesen oder entsprach es der Wirklichkeit? Die Erinnerung an das schrille Heulen ließ mich erschaudern. "Esmee?" Die Stimme meines Vaters riss mich aus meinen Gedanken. Norbert stand im Türrahmen und setzte seine kleine Brille zurecht, seine schwarzen Haare zeigten schon die ersten Ansätze des Alters. "Guten Morgen, Vater.", murmelte ich verschlafen und rieb meine dunkelblauen Augen. "Machst du dich bitte fertig und kommst dann zum Frühstück?", sagte mein Vater und ich nickte. Er drehte sich um und lief die knarrenden Treppenstufen nach unten. Ich tappte zu der Truhe, die gegenüber von meinem Bett stand und holte Kleidung für mich heraus. Langsam zog ich mein Nachthemd aus, streifte mir ein Leinenhemd über und stieg in die Ziegenlederhose. Ich kämmte meine blonden Haare nachdenklich, während ich mich im Spiegel betrachtete, dann ging ich mit einem bedrückten Gefühl nach unten. Auf den braunen Holzstühlen unserer kleinen Küche, saßen bereits mein Vater und Liam, unser Pferdeknecht. Sie unterhielten sich angeregt und verstummten als ich in den Raum trat. Schweigend setzte ich mich zu ihnen und nahm mir eine Portion Haferbrei. "Soll ich dir heute noch helfen?", fragte ich mit vollem Mund meinen Vater. Er war der Bürgermeister von Loména und hatte meistens ziemlich viel um die Ohren. Mein Vater schüttelte den Kopf und erwiderte: "Geh du ruhig in die Schule." Ich kratzte den letzten Rest des Haferbreis aus der Schale heraus, stand auf und zog mir meine Lederschuhe an. Schon als ich die Tür öffnete und auf den Marktplatz hinaus trat, merkte ich das die Stimmung im Dorf angespannt war. Am Horizont türmten sich dunkle Wolkenberge auf und ein kühler Wind strich über den halbleeren Marktplatz. Unser Nachbar stellte gerade ein Aushängeschild auf. Er warf mir einen düsteren Blick zu und verschwand wieder im Inneren seines Schusterladens. Hinter mir hörte ich kindliches Gekicher und die Blackfield Geschwister rannten an mir vorbei in Richtung Kapelle. "Esmee, warte auf mich!", hörte ich eine raue Stimme hinter mir und ich drehte mich um. Ein paar Meter vor mir stand ein großes dünnes Mädchen mit dicken braunen Haaren und silbrig schimmernden Augen. "Guten Morgen Layla.", sagte ich und umarmte sie kurz. Layla erwiderte die Umarmung nur zögerlich, dann setzten wir unseren Weg schweigend fort.

Als wir bei der Kapelle ankamen- die uns auch als Schule diente, erwartete uns schon Pater John. Der dünne Mann war Mitte vierzig und eigentlich ein recht netter und freundlicher Lehrer. Layla und ich sezten uns in die vordere Bankreihe und sahen zu, wie sich die Kapelle langsam füllte. Als eine attraktive, gut aussehende Person den Raum betrat, hob meine Freundin den Kopf. Es war Logan, ein schwarzhaariger Junge, der genau wie meine Freundin in der Gaststätte "Silver Star" arbeitete. Layla senkte schnell den Blick und strich sich eine dunkelbraune Haarsträhne aus dem Gesicht. Ich drehte mich um und beobachtete die anderen Kinder, die sich tuschelnd einen Platz suchten. Dann begann der Unterricht. Pater John erklärte uns, wie die Menschen, vor langer Zeit, angefangen hatten das Dorf Loména zu gründen. Zuerst hatten sich nur ein paar Menschen angesiedelt, doch später entwickelte sich eine richtige Zivilisation. Neugierig folgte ich dem Unterricht des Priesters. Er erzählte uns noch mehr über die Entstehung unserer Heimat und wie wichtig es war sie zu bewahren. Langsam schweiften meine Gedanken ab und das krässliche Heulen der letzten Nacht hallte in meinem Kopf wieder. Ich fragte mich, ob Layla auch wach geworden war. Schließlich flüsterte ich: "Sag mal Layla, hast du in der Nacht auch ein Heulen gehört? Und dieser blutrote Mond... war ganz schön unheimlich." Sie sah mich fragend an, ihr blasses Gesicht wirkte erschöpft. Nach einigen Sekunden, die mir wie eine Ewigkeit vorkamen, sagte sie ebenso leise: "Nein, hab ich nicht. Bestimmt hast du nur geträumt." Ich wollte etwas erwidern, doch Layla ließ es nicht dazu kommen. Sie sagte nur schnell: "Wir sollten jetzt lieber weiter zuhören." Damit wandte sie sich ab und lauschte Pater Johns Worten. Ich runzelte die Stirn und blickte nach vorne.

Nach dem Unterricht gingen wir nach draußen. Layla lehnte sich an den Stamm der riesigen Weide, die neben der Kapelle stand. Lange sagte keiner von uns etwas und wir sahen einfach nur in die Ferne. Layla brach das Schweigen: "Ich muss jetzt leider los zur Apotheke. Wir sehen uns.", das braunhaarige Mädchen wollte schon weggehen, doch ich umfasste sanft ihre Hand: "Warte Mal, ich kann dich auch begleiten." Layla schwieg kurz, doch dann nickte sie. Zusammen gingen wir den steinigen Weg zurück zum Marktplatz. Ich sah Layla von der Seite an. Ich mochte sie wirklich gerne, sie war nicht sehr gesprächig und am Liebsten allein, doch das störte mich nicht im Geringsten. Wir überquerten die kleine Brücke, welche sich über dem Fluss erstreckte. Die "Heideltraut" schlängelte sich direkt durch unseren Marktplatz. Schon von weitem erkannte ich das Haus der Dorfältesten. Josev und Ingrid. Die beiden hatten einen kleinen Kräutergarten und Ingrid verkaufte allerlei Salben, Säfte und weitere Medizin. Josev war allerdings schon seit längerem sehr krank und selbst die weltbeste Medizin konnte ihm nicht mehr helfen. Wir betraten die Apotheke, ein Geruch von Kräutern lag in der Luft. Layla trat zur Holztheke und rief: "Hallo? Ingrid, bist du da?" Ich wartete etwas abseits. Plötzlich erschien eine hagere Gestalt. Ingrid hatte ihre weißen Haare zu einem Zopf geflochten, sie trug eine Schürze und sah uns fragend an. "Sei gegrüßt Ingrid", lächelte Layla höflich. "Na Layla und Esmee, was kann ich denn für euch tun?", fragte sie uns stützte sich auf der Theke ab.







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