Kapitel 4

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Meine Augen waren aufgerissen, mein Kopf völlig leer gefegt.

Das konnte einfach nicht wahr sein, unter keinen Umständen! So was passierte vielleicht in Romanen, aber doch nicht im wirklichen Leben. Nicht hier in Wien, nicht in diesem Klassenraum. Und vor allem nicht mir!

»Oh, là, là.« Lizzy knabberte an der Rückseite ihres Kugelschreibers herum. »Ziemlich hübsch, der Neue.«

Ich riss den Kopf herum. »Lizzy, das ... das ist er!«, japste ich. »Der Straßenkünstler, von dem ich dir erzählt hab.«

Lizzy brauchte einen Moment. »Doch nicht etwa der, dem du weggelaufen bist?«

»Shh!«, machte ich, weil ich nicht wollte, dass er sie hörte. »Doch, genau der.«

»Sieht aus, als bekämst du eine zweite Chance«, grinste Lizzy.

Ein irres Kichern kroch mir den Hals hoch, doch ich schluckte es wieder hinunter. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, den Verstand zu verlieren. Oder hatte ich ihn schon verloren? Ich rieb mir die Augen und sah noch mal hin. Er war immer noch da. Ein paar Meter vor mir, die Hände in den Hosentaschen vergraben. Definitiv keine Halluzination.

»Ah, Herr Sommer!« Der Dünne streckte ihm die Hand hin. »Wie ich sehe, haben Sie sich doch noch entschlossen zu kommen!«

»Offensichtlich«, erwiderte Joe, als würde er diese Entscheidung jetzt schon bereuen. 

Ich hatte den Klang seiner Stimme schon fast vergessen. Der tiefe Bariton fuhr mir in den Bauch, und ich erschrak, als ich plötzlich mit Gänsehaut und pochendem Herzen an meinem Stuhl festklebte.

Der Dünne lächelte. »Was hat sie denn aufgehalten, wenn ich fragen darf?«

»Wecker kaputt . . . Motor abgesoffen . . . Stau auf der Tangente?« Joe fuhr sich durch die Haare, seine Miene blieb ausdruckslos. »Suchen Sie sich Ihre Lieblingsausrede aus. Die Wahrheit ist, dass mir die Kippen ausgegangen sind. Aber das wollen Sie vermutlich nicht hören.«

Gelächter ging durch die Reihen.

Wenig begeistert nahm der Dünne seine Brille in die Hand. »Stimmt, das will ich tatsächlich nicht hören.« Er klappte sie auseinander und setzte sie auf, um dadurch etwas Autorität zu erlangen. »Sie sollten in Zukunft pünktlich erscheinen, Herr Sommer. Andernfalls werden Sie das Abschlussjahr hier nicht schaffen. Das Franz-Kafka-Gymnasium ist anspruchsvoll.«

Joe starrte den Dünnen an. Er sah aus, als würde ihm etwas auf der Zunge brennen. Doch anstatt es auszusprechen, holte er tief Luft und zwang sich zu einem Lächeln. »Kein Problem, Professor. Sie müssen wissen, ich liebe die Schule.«

Wieder lachten einige Mitschüler.

Der Dünne hingegen schien wenig begeistert. »Oh, da bin ich mir sicher, Herr Sommer. Die sechshundertzwölf Fehlstunden, derentwegen Sie dieses Jahr wiederholen, sprechen ja schließlich für sich.«

Joe schnalzte mit der Zunge. »Wow, sechshundertzwölf. Das hat wirklich jemand mitgezählt?«

Als wieder gelacht wurde, klatschte der Dünne mit der flachen Hand auf den Tisch. Mit durchgedrücktem Rücken und erwartungsvoller Miene lehnte er sich auf dem Lehrerstuhl zurück. »Nun gut, stellen Sie sich vor!«

Sichtlich wenig angetan erkundigte sich Joe bei dem lächelnden Professor, ob er das ernst meinte. Der Dünne bejahte. »Liebend gern«, brummte Joe, dessen Miene sich verdunkelt hatte. Er drehte sich um und wandte sich an die Klasse: »Ich bin Jakob Sommer – oder einfach Jake –, achtzehn Jahre alt . . .«

Moment mal . . . Jakob Sommer?

Ich war verwirrt. Wenn mir meine Augen nicht gerade einen riesigen Streich spielten, was ich nicht ganz ausschloss, dann stand dort vor dem Lehrerpult der Künstler, von dem ich mich Monate zuvor hatte zeichnen lassen. Und auch wenn er vor meinem inneren Auge längst verschwommen und unscharf geworden war, konnte ich mich genau daran erinnern, dass er sich als Joe vorgestellt hatte, nicht als Jake.

Gemalter HerzschlagWo Geschichten leben. Entdecke jetzt