Kapitel 6

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Ich liebte das Geräusch, wenn Wasser auf Glas tropft.

Regen.

Ich liebte Regen.

Eingewickelt in meinen Bademantel stand ich am Fenster und fuhr die Tropfen nach, die an der Scheibe hinunterrannen. Der Regen prasselte gegen das Glas und vermischte sich mit dem Donnergrollen und dem Pfeifen des Windes zu einem gewittrigen Klangspiel. In unserem Innenhof bogen und neigten sich die Bäume. Ich stellte mir vor, wie sie ihre Wurzeln tiefer in die Erde drückten, um nicht umzufallen. Es war ein richtiger Sturm, ein kalter, unbarmherziger Sturm, der einem die Tropfen schmerzvoll ins Gesicht schlug, wenn man sich ihm stellte.

Aber das hatte ich nicht vor.

Ich stand hier, in meinem warmen Zimmer, und betrachtete ihn durch das angelaufene Fensterglas hindurch. Ich sah ihn, ich hörte ihn, aber fühlen, fühlen konnte ich ihn nicht. Er war da, konnte aber nichts ausrichten. Die Vorstellung faszinierte mich. Ein bisschen erinnerte mich das an . . . mich selbst.

Manchmal fragte ich mich, wozu das alles gut war. Wozu es gut war, dass ich jeden Morgen aufwachte und aus dem Bett stieg. Wozu es gut war, dass ich aß, schlief, nachdachte und träumte. Wozu es gut war, dass ich überhaupt atmete. Ich hatte keine Ahnung, wofür es gut sein sollte, dass ich tat, was ich eben so tat. Mir kam alles zu gewaltig vor, als dass ein kleiner, unwichtiger Mensch wie ich irgendetwas bewirken konnte. Und wenn ich nichts bewirken konnte, warum gab es mich dann überhaupt? Es kam mir so sinnlos vor. Ich war ein Sturm, den keiner fühlte.

Es gab Momente, in denen ich tatsächlich glaubte, den Sinn des Lebens gefunden zu haben. Aber früher oder später musste ich immer einsehen, dass meine Überlegungen ihre Lücken hatten.

Eine ganze Weile war ich beispielsweise davon überzeugt, dass der Sinn des Lebens einfach im Leben selbst lag. Dass das Leben bloß gelebt werden musste, um seinen Sinn zu erfüllen. Doch was war mit all den Künstlern, Musikern und Schriftstellern, deren Werke das Leben in unserer Gesellschaft noch Jahrhunderte später prägten? Was war mit all den Müttern, die bei der Geburt ihrer Babys starben? Was war mit all den Märtyrern, die für ein höheres Wohl ihr Leben ließen? Der Sinn konnte nicht nur im Leben an sich liegen, sondern auch im Gelebt-Haben und womöglich sogar im Sterben. Ich konnte diesen Gedanken nie zu einer annehmbaren Lösung bringen.

Natürlich dachte ich auch schon daran, dass der Sinn des Lebens im Kinderkriegen liegen könnte und dass wir alle nur lebten, um die menschliche Gattung zu erhalten. Biologisch und evolutionstechnisch gesehen, war es sicher sinnvoll, sich fortzupflanzen. Außerdem gab es wundervolle Menschen, und diese wundervollen Menschen zu erzeugen, hätte mir als Sinn gepasst. Aber es gab nun mal auch Vergewaltiger und Mörder und Kinderschänder, und dass der Sinn mancher Leben darin bestand, ein Monster in die Welt zu setzen, das glaubte ich nicht.

Vielleicht lag der Sinn des Lebens auch in der Erfahrung von Glück. Vielleicht waren wir gar nicht dazu bestimmt, irgendein höheres Ziel zu erreichen. Vielleicht sollten wir einfach genießen, was wir hatten, und dafür sorgen, dass andere Menschen ihr Leben ebenfalls genießen konnten. Vielleicht war es unsere genuine Aufgabe, das Glück in der Welt zu vermehren - genau, wie es die Hedonisten predigten. Immerhin war Glück das höchste Gut des menschlichen Lebens, das Endziel, sozusagen. Nur leider hatte ich nicht den Hauch einer Ahnung, wie man diese Idee in die Tat umsetzen sollte. Alles, was einen glücklich machen konnte - und zwar richtig glücklich -, war gleichzeitig immer auch die Ursache des größten Leidens. Je ergreifender die Liebe, desto schmerzhafter der Verlust. Je lustiger die Gesellschaft, desto trauriger die Einsamkeit. Je vergnügter das Leben, desto tragischer der Tod. Man konnte das Glück auf Erden nicht vermehren. Je mehr man nämlich davon hatte, desto größer war die Angst, es irgendwann zu verlieren. Weil nichts auf dieser Welt von ewiger Dauer war und man sicher sein konnte, dass jeder Höhenflug eine harte Landung nach sich zog.

Gemalter HerzschlagWo Geschichten leben. Entdecke jetzt