Kapitel 9

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In dieser Nacht fand ich keinen Schlaf. Stundenlang drehte ich die Zigarette zwischen den Fingern, starrte in ihr schmales Gesicht und ließ mich von ihrem selbstgerechten Grinsen verunsichern.

Er ist nicht wie du, gab sie mir zu verstehen. Du wirst ihm nicht standhalten. Das dämliche Ding hatte recht. Jakob war nicht wie ich. Er gehörte zu einer völlig anderen Sorte Mensch, zu jener Sorte, der man nur einmal in seinem Leben begegnete und die einen bleibenden Eindruck hinterließ. Nein, keinen Eindruck – eine Narbe. Diese Menschen suchte man nicht, sondern man begegnete ihnen, und vom ersten Moment an zogen sie einen in ihren Bann, faszinierten und inspirierten einen, bis man ganz verrückt nach ihnen war. Und dann, wenn der Höhenflug vorüber war, rissen diese Menschen einen mit in die Tiefe, in ihre ganz persönliche Tiefe, in die Dunkelheit, die in ihnen schlummerte, die man immer geahnt hatte und gleichzeitig nie hatte wahrhaben wollen. Zu dieser Sorte Mensch gehörte Jake Sommer. Das spürte ich. Genau wie seinen Sog, den spürte ich auch. Wie das Meer, das sich zurückzog, bevor es sich zu einer Flutwelle erhob.

Ich redete mir ein, dass es normal war, das Gefühl, das er in mir auslöste. Dieses Kribbeln im Bauch, die Aufregung, die Vorfreude. Die Vertrautheit, als wäre er ein Freund aus Kindheitstagen, den ich längst vergessen und nun wiedergetroffen hatte. Immer wieder versicherte ich mir, dass Jakob ungefährlich war – ein ganz normaler Junge mit harmlosen grauen Augen, die mir nichts anhaben konnten. Doch das stimmte nicht.

»Er verheimlicht etwas, oder?« Ich starrte die Zigarette an. Sie antwortete nicht, doch ich brauchte auch keine Antwort. Mein Bauchgefühl versicherte mir, dass ich recht hatte.

Jakob Sommer war ein Fremder für mich. Ich wusste so gut wie nichts über ihn, und alles, was ich wusste, hatte er mich wissen lassen. Er erzählte mir gerade genug, um mich bei der Stange zu halten, doch sobald ich nachfragte, wurde meine Neugierde bestraft. Jake hatte Geheimnisse, das war offensichtlich, und seine Geheimnisse waren entweder schicksalsschwer oder schmutzig. Vielleicht auch beides. Denn seine dunklen Augenringe, die leichenblasse Haut, die Wutausbrüche, die Stimmungsschwankungen, die Traurigkeit in seinen Augen – all das kam nicht von irgendwo. 

Ich spielte mit dem Daumen am Zigarettenfilter herum. Es wäre klug gewesen, erst mal auf Abstand zu bleiben. Ich hätte skeptisch sein müssen, abwarten, analysieren, wie er sich verhielt und ob ihm zu trauen war. Dann, wenn ich ihn gut genug kannte, hätte ich mich ihm gefahrlos öffnen können. Nicht alles auf einmal, sondern Stück für Stück, Information für Information.

Aber leider war ich keine Skeptikerin. Und auch keine Analytikerin. Verdammt, ich war das komplette Gegenteil, ein naives Mädchen, das zu dem erstbesten Typen ins Auto stieg, der ihr eine Mitfahrgelegenheit anbot, und ihm dann auch noch von ihrer toten Mutter erzählte!

Besorgt stopfte ich die Zigarette unter mein Kopfpolster, während sich in meiner Magengegend schon wieder dieses unheilvolle Flattern ausbreitete. Ich zwang mich, an etwas anderes zu denken – an Latein oder an Goethe oder an die Quadratwurzel aus Pi –, nur nicht an dieses nebulöse Grau, bloß nicht an diese rußigen Finger, auf keinen Fall an diese tiefe Stimme. Doch es gelang mir nicht. Das Gefühl wurde schlimmer, mein Herz begann zu rasen, meine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln und ich wusste mit jeder Faser meines Körpers: Das würde böse enden.

Nachdem mir endlich die Augen zugefallen waren, träumte ich davon, wie Jake mich in die Donau schubste, wie sich das kalte Wasser in einen rosaroten Milchshake verwandelte, und wie ich nach seiner Hand griff, um ihn ebenfalls hineinzuziehen. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war ich ernsthaft um meine psychische Gesundheit besorgt. Doch je länger ich über meinen Traum nachdachte, desto schöner erschien er mir. 

Den ersten Schultag nach dem Wochenende begann ich schließlich mit einem großen Erdbeermilchshake, an dem ich den ganzen Schulweg hindurch genüsslich schlürfte. Um mir die Zeit zu vertreiben, las ich nebenbei in unserem neuen Philosophiebuch. Der Aufbau des Lehrbuchs war ziemlich enttäuschend. Die ersten fünf Kapitel drehten sich um die Ursprünge der Philosophie im alten Griechenland, während die spannenden Themen – Freiheit, Tod, Moralphilosophie – erst ganz am Schluss kamen. Hoffentlich würde unsere Professorin ein paar Kapitel überspringen.

Gemalter HerzschlagWo Geschichten leben. Entdecke jetzt