Obwohl ich die ganze Nacht kein Auge zugemacht hatte, fiel mir das Aufstehen am nächsten Morgen nicht sonderlich schwer. Den Block unter meinen Arm geklemmt, spazierte ich in Richtung Bushaltestelle und überlegte mir schon mal, wie ich Jakob zur Rede stellen könnte, ohne mich dabei selbst zu outen. Immerhin hatte ich nicht nur seine Arbeiten durchgesehen und damit seine Privatsphäre verletzt – was schon schlimm genug gewesen wäre –, sondern auch noch eine Zeichnung gefunden, die ihn ganz schön in Erklärungsnot bringen würde. Ich hatte Angst, dass er mir meine Entdeckung übel nehmen würde. Riesenangst sogar. Aber ich musste einfach wissen, warum er mich gezeichnet hatte. Andernfalls würde ich nie wieder ruhig schlafen können.
Leider machte mir das Leben auch diesmal einen Strich durch die Rechnung. Als ich nach einer ziemlich holprigen Busfahrt endlich in der Schule ankam, musste ich feststellen, dass Jakob auch heute nicht aufgekreuzt war. Mit einer ganzen Lkw-Ladung Fragen im Kopf ließ ich mich auf meinen Stuhl plumpsen und starrte kopfschüttelnd auf den leeren Platz zu meiner Linken.
Warum schwänzte er andauernd den Unterricht, obwohl ihm das schon mal einen Schulverweis eingebrockt hatte? Wo trieb er sich die ganze Zeit herum? Und was konnte bloß so wichtig sein, dass er dafür seinen Abschluss riskierte?
Ich hatte nicht den blassesten Schimmer.
Dass er sich am Donnerstag ebenfalls nicht blicken ließ, fügte dem Chaos in meinem Kopf die apokalyptische Endnote hinzu. Ich konnte mich kaum noch konzentrieren, geschweige denn, die Extremwertaufgaben lösen, die wir aufbekommen hatten, und verließ das Schulgebäude mit haufenweise leeren Arbeitsblättern, die ich über Nacht erledigen musste. Dabei hätte ich den Schlaf dringend gebraucht.
Umso erschöpfter war ich, als am Freitagmorgen mein Wecker klingelte. Nachdem ich mich geduscht und mir etwas übergezogen hatte, schlich ich mich ins Schlafzimmer meiner Eltern und schnüffelte in Moms Kleiderschrank herum. Ich fischte mir eine dünne Lederjacke heraus, zog sie an und ging nach unten. Eigentlich hatte ich vorgehabt, mich stillschweigend nach draußen zu stehlen. Doch mein Dad fing mich vor der Wohnungstür ab und zog mich zum Frühstückstisch.
»Ich habe heute wirklich keinen Hunger«, murrte ich und schob das Rührei, das er mir vor die Nase gestellt hatte, mit der Gabel von einer Seite des Tellers zur anderen.
Mein Vater ließ sich nicht beirren. »Frühstücken ist gesund, Cherie. Wenn du weiterhin jede zweite Mahlzeit ausfallen lässt, bleibt bald nichts mehr von dir übrig.«
Ich verdrehte die Augen. »Findest du das nicht etwas übertrieben?« Gut, vielleicht hatte ich mich letzte Woche ein paar Mal vor dem Frühstück gedrückt, aber bei dem Gedanken an meinen neuen Sitznachbarn war mir einfach der Appetit vergangen. Sowohl im positiven als auch im negativen Sinn.
Dad antwortete nicht. Stattdessen setzte er eine derart strenge Miene auf, dass ich resignierend nach der Gabel griff und lustlos zu essen begann.
»Du hast schon wieder ihre Jacke an«, stellte Dad fest, nachdem ich die Hälfte des Rühreis runtergewürgt hatte. Es klang wie ein Vorwurf und war vermutlich auch einer.
»Ich durfte mir immer ihre Sachen ausleihen«, verteidigte ich mich und senkte, als ich den Gesichtsausdruck meines Vaters nicht länger ertrug, den Blick auf meine Rühreireste. »Außerdem wird sie die Jacke wohl kaum brauchen.«
»Du siehst aus wie sie«, murmelte Dad wehmütig und nippte an seinem Kaffee.
Stille kehrte zwischen uns ein.
Ich konnte ihm seine Reaktion nicht übel nehmen. Er vermisste Mom. Er vermisste sie so sehr, dass seine weichen Züge davon ganz starr und hart wurden. Ich wünschte, ich müsste ihm das nicht antun. Ständig trug ich ihre Sachen: ihre Jacken, ihre Stiefel, ihre Schals, ihre Handschuhe, sogar ihr altes Pyjamaoberteil. Ich wünschte, ich wäre selbstlos genug, das ganze Zeug einfach zu verbrennen und meinem Vater die Last abzunehmen, sich ständig an sie zu erinnern. Doch ich brachte es nicht übers Herz. Ich vermisste sie schließlich auch, und ihre Sachen anzuziehen, gab mir das Gefühl, einen kleinen Teil von ihr am Körper zu tragen.
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Gemalter Herzschlag
Chick-LitSeit die siebzehnjährige Cherie ihre Mutter verloren hat, sucht sie verzweifelt nach einem Sinn - bisher ohne Erfolg. Dann lernt sie den jungen Straßenkünstler Jake kennen, der nach einem Schulverweis in ihre Klasse versetzt wird. Jake interessiert...