Gewaltige Pfeiler, dunkler Maschendrahtzaun, wuchtige Steinblöcke. Eine Mauer.
Ein monströser Wall, der unsere Welt in zwei Teile trennen sollte, den Sinn habe ich niemals verstanden, jedoch gar nicht erst versucht zu hinterfragen. So war es uns beigebracht, regelrecht eingetrichtert worden. Keine Fragen, pure Akzeptanz. Das war das Gesetz. An jenem lauen Septembermorgen konnte ich noch nicht ahnen, dass die Sonne für mich kein weiteres Mal aufgehen würde. Die Stimmen in meinem Kopf lenkten mich zu jener Mauer. So war es schon immer gewesen, das Fremde schien mich auf unerklärliche Weise anzuziehen. Die hallenden Stimmen verstummten nicht, als ich hinter einem Rosengewächs vor der Mauer Deckung suchte. Im Gegenteil: Sie wurden immer drängender. Noch bevor ich mir darüber im Klaren wurde, was es für mich und meine Zukunft bedeuten würde, waren es diese Stimmen, die meine Beine dazu brachten, die Deckung aufzugeben. Sie trugen mich über die gerodete Waldfläche, hin zur Mauer. Ich musste schnell laufen, schneller, als es je von mir verlangt wurde: Würde ein Wachmann mich sehen, würde dies mein Ende bedeuten. Ich konnte ja nicht ahnen, dass mein Ende in dem Moment begann, als ich meine Deckung hinter dem Gewächs aufgab. Ich war so schnell gelaufen, dass mein Atem rasselte und ich das Gefühl hatte, mein Herz würde in meinem Brustkorb zerbersten. Aber dennoch hatte ich es geschafft, ich hatte die Mauer erreicht, dieser Triumph wird mir für immer in Erinnerung bleiben. Ich malte mir aus, wie ich als alte Frau in einem Schaukelstuhl sitzen würde und meinen zahlreichen Enkeln immer und immer wieder dieselbe Geschichte schildern würde. Die Euphorie meines Triumphs ließ mich die wesentliche Gefahr, die Gefahr jederzeit entdeckt werden zu können, vergessen. Schüsse wurden laut, ich hatte mich zu früh gefreut: Das war der Anfang vom Ende.
Eine andere Person würde jetzt vielleicht sagen, sie sei nicht so glücklich wie davor. Hier wäre es nicht so schön wie auf der anderen Seite. Vielleicht mochte das stimmen. Doch ich wäre nicht glücklich geworden. Ich hätte nicht glücklich sein können, ohne diese Seite gesehen zu haben. Hätte mich selbst verflucht, Beine zu haben und trotzdem still zu stehen.
Erst später wurde mir klar, dass jene Mauer mich deshalb derart verführte, da sie ein Sinnbild meiner selbst war. Auf der einen Seite der Mauer, der Bekannten, lebte ich mein Leben vor mich hin. Ich tat stets das Einfache, das Richtige, das, was mir bekannt war. Diese Seite existierte auch in meinem Kopf: Ich lebte mein Leben, ohne irgendetwas zu hinterfragen, ohne einen Blick über den Tellerrand zu werfen. Das versprach mir ein einfaches, aber sicheres Leben. Machte das wirklich glücklich?
Auf der anderen Seite der Mauer lauerte ein dunkles Wesen: das Unbekannte.
Meine Seele liebte das Unbekannte, denn woher sollte ich wissen, dass es etwas Schlechtes war? Man muss das Unbekannte erst zu etwas Bekannten machen, um darüber urteilen zu können. Zwischen beiden Teilen meiner Seele lag eine Mauer. Eine scheinbar unüberbrückbare Kluft: Die Überwindung Neues zu entdecken und dieses zu akzeptieren.
Doch ich schaffte es, diese Kluft zu bestreiten. Ich war bereit dazu, die andere Seite der Mauer zu sehen.Gewaltige Pfeiler, dunkler Maschendrahtzaun, wuchtige Steinblöcke. Eine Mauer.
DU LIEST GERADE
A head full of thoughts
Poetryverschiedene Kurzgeschichten, Gedanken und poetische Texte, mit denen ich versuchen möchte euch zu berühren sowie zum Denken anzuregen!