Wer definiert Schönheit?

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Ich bin schön, ich bin nicht schön, ich bin schön, ich bin nicht schön, ich bin schön.

„Was dein Feind nicht wissen soll, das sage deinem Freund nicht", flüsterte ich leise. Fast wäre ein kleiner Moment der Schwäche zu einem großen Fehler geworden. Mein inneres Zerwürfnis hätte mich fast dazu gebracht, mein Geheimnis preiszugeben. Jenes Geheimnis lag tief verborgen unter meiner Kosmetik, unter meinen falschen Haaren. Dieses Dunkel lag so tief in mir verborgen, dass sogar Ich selbst es manchmal vergaß. Ich hatte Alopecia areata. Hörte sich an wie eine exotische Pflanze. Ich konnte den Begriff nicht ausstehen. Es war eine Krankheit, in deren Verlauf sämtliche Körperbehaarung ausfallen konnte. Tagsüber, versteckt unter einer Perücke, konnte ich in meiner Scheinwelt leben. Mir einreden, dass ich gesund war. Hübsch war. Ich verlor mich in meinem Spiegelbild, sah ein schönes Mädchen. Doch mein Gegenüber war nur eine Maske meiner selbst.

Ich bin schön, ich bin nicht schön, ich bin schön, ich bin nicht schön, ich bin schön.

Ich wollte diese Maske nicht tragen, ich konnte es nicht mehr. Meine Hände hatten das Telefon ergriffen. Das Selbstmitleid war es gewesen, welches mich anführte, meine Krankheit offenbaren zu wollen. Im nächsten Moment jedoch schüttelte ich den Kopf, schloss meine Augen, schluckte die Entschlossenheit herunter. Ich legte das Handy beiseite und setzte mich vor den großen Spiegel an meinem Kleiderschrank. Was war nur aus mir geworden? Nachdem mir die ersten Haare ausgefallen waren, hatte ich meine Beziehung beendet, zog mich vollkommen aus meinem sozialen Umfeld zurück. Keiner sollte meine neue, hässliche Seite sehen. Ich erzählte niemandem davon. Der Klingelton des Handys unterbrach die Stille. Es war Emma. Meine beste Freundin. Sie hatte es nie aufgegeben, hatte es nicht hingenommen, dass ich sie aus meinem Leben ausschloss. Ich drückte weg. Wollte nicht mehr lügen. Ein zweiter Signalton ertönte. Eine SMS. Ich las sie sofort, schluckte schwer. Emma hatte mich zu ihrem Geburtstag eingeladen. Trotz der Ignoranz und Distanz hatte sie sich nicht von mir abgewandt. Dieser Gedanke packte mich so sehr, berührte mich. Mehr als er es sonst tat. Emmas Loyalität bewirkte etwas in mir. Ich konnte ihrer Einladung nicht absagen. Konnte es einfach nicht. Ich war die Einsamkeit satt, hatte es so satt dabei zuzusehen, wie mir mein Leben durch die Finger glitt. Nur weil ich unter Menschen ging, hieß das noch lange nicht, jemandem meine Krankheit offenbaren zu müssen. Ich war fest entschlossen, mein Leben wieder zu leben. Mein Davor-Leben. Mein Leben ohne Alopecia areata.

Ich bin schön, ich bin schön, ich bin schön, ich bin schön, ich bin schön.

Es war eine Poolparty. Natürlich. Ich konnte nicht verhindern, dass mir ein bitteres Lachen die Kehle hochstieg. Mit meiner Perücke konnte ich nicht ins Wasser gehen. Ich würde mich langweilen. Doch ich war nicht enttäuscht, so konnte ich mir einreden, dass es doch gar nicht schlimm sei, wenn ich auf keine Partys mehr gehe. Denn Partys waren langweilig! Es war, wie ich es mir vorgestellt hatte. Viel nackte Haut. Viele Mädchen, die um die Aufmerksamkeit der Jungen buhlten. Ihre langen Haare über die Schultern warfen. Ich beobachtete die vielen Menschen um mich herum. Es war paradox, ich war umgeben von so Vielen und dennoch allein. Ich musterte die Mädchen, ich musterte die Jungen. Fragte mich, was jeder von ihnen wohl für ein Geheimnis mit sich tragen würde. Wer waren diese Menschen wirklich? Ich fixierte die Sofaecke vor mir. Ellesse. Ich erschrak. Das T Shirt meines Ex-Freundes. Toms Shirt. Mein Tom. Ich begann, hektisch zu werden. Wo sollte ich hin? Ich hatte ihn ohne eine weitere Erklärung verlassen. Zu spät. Unsere Blicke trafen sich. Ich atmete tief durch, hoffte inständig, dass er mich nicht ansprach. Doch in seinen Augen sah ich nichts als Wut. Er war wütend auf mich. Ich konnte es ihm nicht verdenken. Ich hatte ihn verlassen und unsere drei gemeinsamen Jahre einfach so mit dem Fuß getreten. Hatte uns nicht genug vertraut. Eine Stimme riss mich aus meinen Gedanken. „Du bist hier!", ein vertrautes Quieken. Emma. Ich sah sie an, lächelte. „Natürlich bin ich hier. Es ist schließlich dein Geburtstag", sagte ich bestimmt. Sie musterte mich mit fragendem Blick. Erwartete sie etwa eine Erklärung? Jetzt? „Was?", fragte ich vorsichtig, rang mir ein Lächeln ab. „Ich möchte wissen, was los ist", antwortete sie. „Wo warst du? Was ist passiert?" „Emma", flüsterte ich. „Ich glaube nicht, dass jetzt der geeignete Zeitpunkt dafür ist". „Ich wünsche es mir. Zum Geburtstag", sagte sie leise. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Ich kenne dich, seit wir kleine Mädchen waren. Ich kann nicht zulassen, dass du einfach so aus meinem Leben verschwindest", fügte sie noch hinzu. Ich drehte mich zur Seite, konnte sie nicht ansehen. Ich schämte mich so. Schämte mich für mein Aussehen, schämte mich für mein Verhalten. „Langsam reicht es mir", zischte sie jetzt und wartete meine Reaktion nicht einmal mehr ab. „Ich wollte dich nicht gehen lassen. Wirklich nicht", ihre Stimme wurde immer lauter. „Aber ich habe es jetzt begriffen, du bist schon längst gegangen!" Die letzten Worte waren regelrecht geschrien. Plötzlich war es still. Alle Gäste blickten uns an. Ich spürte Emmas Wut, ihre Enttäuschung. Ich spürte Toms Wut, seine Verzweiflung. Und dann tat ich etwas, wozu mir so lange der Mut gefehlt hatte, tat etwas, was man wohl als Affekthandlung bezeichnete: Ich nahm Anlauf und sprintete fast schon auf den Pool zu. Ich nahm die Umgebung um mich kaum wahr, hatte erst im Nachhinein darüber nachgedacht, was die Gäste wohl in diesem Moment dachten. Wahrscheinlich ob ich den Verstand verloren hätte. Doch ich sah die anderen Menschen gar nicht. Das kalte Wasser empfing mich, rüttelte mich wach, zeigte mir, dass ich am Leben war. Als ich wieder aufgetaucht war, war die Schminke verlaufen, die Perücke weggeschwemmt. Doch ich fühlte mich weder nackt, noch bloßgestellt. Ich fühlte mich endlich frei. Es war so still, sie alle starrten mich an. In ihren Augen jedoch sah ich keinen Spott, kein Mitleid. Ich sah tiefen Respekt.
Einer fing an, ein zweiter machte mit. Sie alle zusammen bildeten ein Chor aus applaudierenden Händen.

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