1. Kapitel

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Ungern erinnerte sie sich daran, was sie heute Morgen im Turnen alles erlebt hatte. Sue war ständig bemüht, dem Neuen aus dem Weg zu gehen, doch alles schien ihr heute in den Rücken fallen zu wollen. Der Lehrer, der sie mit ihm die ganzen Übungen hatte machen lassen. Die Berührungen, die sie gespürt hatte, als Zelo versucht hatte, ihr zu helfen. Einfach alles, wobei sie sich nicht einmal sicher war, ob er ihr wirklich hatte Helfen wollen, oder ob er sie einfach nur anfassen wollte, ohne dass es danach aussah. Nike traute ihm alles zu, konnte sie ja auch. Schliesslich war er kein unbeschriebenes Blatt in Südkorea, es gab Ärger, immer nur Ärger, wo er auftauchte. Frauen, die in seinem Blickfeld waren, fanden nicht mehr so leicht heraus. Sprich, wenn er ein Auge auf eine bestimmte Person geworfen hatte, war sie nicht mehr sicher. Heute Nachmittag war es nicht anders, wie immer war sie leicht im Stress, rannte über den Pausenplatz, um noch rechtzeitig im Schulzimmer anzukommen. Wie immer war sie viel zu knapp dran, fünf Minuten vor Schulbeginn. Für manche war das nichts, für sie war dass Stress pur. Egal was sie tat, egal was sie machte, sie wollte partout nicht zu spät kommen. Dass sie dabei ein paar Sachen zuhause vergessen hatte, nahm sie gerne in Kauf. Hauptsache, sie war nicht zu spät und musste so nicht peinlich berührt vor dem neuen Schüler auf den Boden schauen. Doch dieser schien nichts von Pünktlichkeit oder dergleichen zu halten. Kaum war sie an der Tür, hörte sie, wie jemand sie rief. Blinzelnd drehte sie sich um und sah den Grossgewachsenen, Silberhaarigen an. Super, warum bin ich bloss so spät gegangen? »Hey, Nike, richtig?« Das Lächeln auf seinen Lippen brachte sie ebenfalls zum Lächeln. Nickend öffnete sie die Tür vor ihnen. Ohne ihn auch nur noch einmal anzusehen. »Ich... ich äh... wollte mich entschuldigen wegen heute Morgen. Ich wollte dich nicht anstarren.« Fast, ohne es zu wollen, unterbrach sie ihn, sie sah ihn an, trat dann zu ihm. »Du kannst zwar die anderen täuschen, aber nicht mich. Ich weiß, wer du bist Zelo, ich weiß, was du getan hast. Lass mich einfach in Ruhe, ich will rein gar nicht mit dir zu tun haben.« Wortlos starrte er Nike an. Innerhalb von Sekunden änderte sich seine ganze Haltung, sein Lächeln verschwand, sein Ausdruck wurde gefährlich. Gefährlicher als es ihr lieb war. Langsam kam er auf sie zu, bedrohlich mit einem starren Blick. Ängstlich wich sie zurück, stolperte dabei fast über ihre eigenen Füsse, nahm dann doch beide Beine in die Hand. Drehte sich um und rannte die Treppen nach oben. Wohl wissend, dass er ihr auf den Fersen war. Wie schnell er sie einholen könnte, wollte sie nicht wissen. Sie hoffte nur, ihr Klassenzimmer schnell erreichen zu können. Kurz schaute sie zurück. Es schien, als sei sie schnell genug. Warum musste sie das sagen? Warum hatte sie das gesagt? Warum hatte sie nicht ihre Klappe halten können, als sie mit ihm geredet hatte? Warum war sie gleich so schroff zu ihm, warum? Jetzt hatte sie das Problem, konnte nur hoffen, dass er sie nicht all zusehr bestrafen würde. Dass er sie dennoch in Ruhe lassen könnte. Sie hoffte es so sehr. Aber wofür auch, schließlich war er Zelo. Ein Mensch, der nicht davor zurückschreckte, einem anderen Menschen weh zu tun. Einem Menschen, der schon einmal gemordet hatte. Es wahrscheinlich immer und immer wieder tun würde. Irgendwie schaffte sie es dann doch, von ihm wegzukommen. Sobald sie die Türklinke des Klassenzimmers in der Hand hatte, wusste sie, konnte er ihr nichts mehr antun. Seine Schritte verlangsamten sich automatisch. Sein Blick änderte sich innerhalb von Sekunden von gefährlich zurück auf freundlich. Doch seine Augen verrieten der jungen Schülerin, dass sie aufpassen sollte. Stumm drehte sie sich um, öffnete die Tür und konnte die Röte bereits im Gesicht spüren. Mehrere Blicke lagen auf ihnen, selbst die ihres Lehrers. »Tut uns leid, wir haben geredet und dabei die Zeit vergessen, kommt nicht mehr vor.« Wie er seinem neuen Lehrer ins Gesicht lügen konnte, unglaublich. Kurz sah sie blinzelnd zu ihm, dann zu ihrem Lehrer, der sie beide mit verschränkten Armen anschaute. Sie brauchte kein wirkliches Genie zu sein, um zu wissen, dass die Klasse schon was falsch gemacht hatte. Welch einen Vortrag von Mr. Serra sie jetzt wohl hören durften? Stumm ging sie zu ihm, gab ihm die Hand zu Begrüssung und lief dann wortlos zu ihrem Platz, setzte sich hin und packte leise ihre Sachen aus. Vernahm dabei die Worte des jungen Lehrers. »Du musst der neue Schüler sein, richtig? Willkommen in der Klasse. Du kannst dich gleich neben Eva setzen.« Sofort hob Nike ihren Kopf, drehte sich zu ihrer Freundin um, schaute dann wieder zu Zelo und beobachtete leicht zitternd, wie er an ihr vorbei zu dem Platz direkt hinter ihr ging, sich setzte und nach vorne an die Wandtafel schaute. Langsam drehte sie sich wieder um, strich sich durch die kurzen roten Haare und richtete ihre Brille. Schliesslich schaute sie den Lehrer an und atmete tief durch. Sie brauchte keine Angst zu haben, oder? Hier würde er ihr nichts tun können. Aber was, wenn doch? Was, wenn das Glück nicht auf ihrer Seite war? Ein ungutes Gefühl machte sich in ihr breit, als sie das Getuschel ihrer Pultnachbarin Lydia hörte. Die Schulschlampe schlechthin. Es gab niemanden, den sie nicht schon im Bett hatte, wie konnte man ihr auch widerstehen? Schöne lange schwarze Haare, ebenso schöne braune Augen und einen Körper, wie ein Model. Das einzige Problem war halt nur, dass sie zehntausend Tonnen Schminke in ihrem Gesicht hatte. Nike wusste schon gar nicht mehr, wie das Mädchen in echt überhaupt aussah. Doch sie wusste, Zelo war ihr Ziel, nur war er eindeutig eine Nummer zu gross für sie. Aber sollte sie das Mädchen warnen? Hören würde Lydia sowieso nicht. Dafür war sie viel zu dumm. Kurz schüttelte Nike den Kopf, stupste Lydia an, um ihr zu zeigen, dass sie Leise sein soll. Doch wann hatte das Mädchen je auf das rothaarige Mauerblümchen gehört? Richtig. Gar nie. Erst musste der Lehrer das Mädchen wieder anschreien, was er jetzt gerade auch tat. Blinzelnd sah Nike den jungen Lehrer an, atmete tief durch und senkte den Blick auf den Tisch. »Lydia, wie oft soll ich es noch sagen? Man ist still, wenn der Lehrer etwas sagt.« Warum waren die Muster gerade so interessant? Ja, alles war interessanter, als dem Lehrer dabei zuzuhören, wie er langsam aber sicher eine seiner Schülerinnen zur Schnecke machte. Mal wieder. Leise seufzend schüttelteNike den Kopf, als Lydia schließlich aufstand und das Klackern ihrer Highheels auf dem Boden zu hören war. Das letzte, was sie hören konnte, war, wie sich die Tür öffnete und wieder schloss. Danach beschloss sie, ihrem Lehrer wieder zuzuhören. Blinzelnd hob sie den Kopf, schaute den blondhaarigen Lehrer mit dem Dreitagebart an und versuchte wirklich, mit ihren Gedanken beim Thema zu bleiben. Was aber bis jetzt nur langweilige Infos waren: Was alles anstand, wann der Wintersporttag anfangen würde, das Bekämpfen der nicht gemachten Hausaufgaben. Die halbe Stunde war jeweils geschenkt, meistens war es sogar ne ganze Stunde, in der der Lehrer ihnen irgendwelche Sachen an den Kopf warf. Heute ging es nicht so lange, doch hätte sie gehofft, dass es länger dauern würde. Denn Lust auf Naturlehre hatte sie nicht, hatte sie irgendwie nie. Nur wenn es ein interessantes Thema war.Nicht so wie jetzt: Genetik und Vererbung. Und zudem wurden die Inhalte im Moment sowieso nur wiederholt. »Ich kann nicht verstehen, warum ihr nicht einfach eure Hausaufgaben macht. Immer diese Probleme für nichts und wieder nichts. Also Gut, wer sie morgen nicht bringt, kommt mittwochnachmittags vorbei. Aber jetzt endlich zum Thema, ich habe euch alle in Zweiergruppen aufgeteilt. Zusammen werdet ihr euch eine Woche um ein bestimmtes Thema kümmern und Ende Monat der Klasse vortragen. Das wird benotet.« Ein gereiztes Stöhnen ging durch die Klasse, niemand hatte Lust darauf, das merkte man sofort. Besonders die Worte ›ich habe die Gruppen eingeteilt‹ brachten viele dazu, genervt gegen den Boden zu kicken und aus dem Fenster zu starren. »Felix, du arbeitest mit Amanda. Kim du arbeitest mit Ginger. Lydia arbeitet mit dir Raphael; und Eva, du arbeitest mit Tyler.« So las er die Namen runter, mit jedem stieg Nikes Angst mehr, dass sie mit dem Jungen hinter ihr in eine Gruppe kommen würde. Am Ende waren schliesslich noch vier übrig. Sie, Zelo, der Nerd Finn und Helena. Insgeheim hoffte sie, mit Helena in der Gruppe zu sein, doch die Hoffnung starb, als sie die Worte hörte: »Zelo, du arbeitest mit Nike zusammen.« Diese Worte liessen sie praktisch in sich zusammensacken. Das konnte doch nicht wahr sein. Vorsichtig wagte sie einen Blick nach hinten, nur um zu sehen, wie seine Reaktion war. Und was sie sah, machte ihr gleich Angst. Ein dreckiges Grinsen lag auf den Lippen des Asiaten. »Ihr könnt für den Rest der Stunde an eurem Thema arbeiten. Im Gruppenraum sind Zelo und Nike, der Gang ist frei. Wer fragt, darf rausgehen.« Wie vom Blitz getroffen, schaute sie sofort nach vorne. Was hatte er gesagt? Seit wann entschied Mister Serra, wer raus ging und wer in den Gruppenraum? Das war ihr ganz neu. Aber es zeigte ihr, wie sehr ihr das Glück wieder beistand, nämlich gar nicht. So, wie es sonst immer der Fall gewesen war. Blinzelnd liess sie den Kopf hängen, bemerkte die vielen Blicke auf sich, besonders die der Mädchen in ihrer Klasse. Sie waren eindeutig dagegen, dass sie mit dem Neuen arbeitete. Aber sie könnte sich auch Besseres vorstellen als das. »Kommst du?« Die raue Stimme ihres Partner riss sie völlig aus ihren Gedanken. Blinzelnd schaute sie nach oben in sein hübsches Gesicht. Nickte dann knapp, nahm ihre Sachen und lief ein Stück hinter ihm aus dem Schulzimmer. Sofort spürte sie den eifersüchtigen Blick von Lydia auf sich, schaffte es aber, diesen zu ignorieren. Zelo öffnete ihnen beiden die Tür des kleinen Gruppenraums. Stumm ging sie an ihm vorbei in den Raum, legte ihre Sachen auf den Tisch und wollte das Fenster aufmachen, da es wirklich unangenehm roch. Doch eine Hand auf ihrer Schulter hielt sie davon ab, auch nur noch einen Schritt Richtung Fenster zu machen. Das Nächste, was sie irgendwie wahrnahm, war ein heftiger Stoss gegen die Wand, somit weg von der Tür und dem Gefühl, von den anderen beobachtet zu werden. Dafür spürte sie eine kalte, raue Wand hinter sich. Vor sich nahm sie den heissen Atem des Neuen. Blinzelnd sah sie zu ihm hoch, musterte sein Gesicht und zitterte bereits am ganzen Leib. Was hatte er vor? Was würde er jetzt machen? Mit weit geöffneten blauen Augen starrte sie ihm ins Gesicht. Betete, nein hoffte schier, dass er nichts tun würde, das ihr schaden könnte. »Hör mir gut zu, Nike. Ich bin nicht in der Absicht hierher gekommen, jemandem Schaden zuzufügen. Aber wenn es sein muss, werde ich es tun. Besonders, wenn mir jemand so gefährliche Androhungen macht wie du.« Sie spürte seine Hand an ihrer Wange: »Ich will so einem hübschen Mädchen wie dir nicht weh tun müssen. Aber wenn du irgendjemandem verrätst, wer ich bin, muss ich es wohl oder übel. Ich tu dir nichts, solange du deine Klappe hältst, hast du mich da verstanden?« Seine Hand strich von ihrer Wange runter zu ihrem Hintern, griff dort zu und zog sie an sich. Mit einem feurigen Blick sah er sie an und näherte sich ihren Lippen. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie seinen warmen Atem im Gesicht spürte. Am liebsten hätte sie ihm eine Ohrfeige gegeben, doch sie traute sich nicht. Sie traute ja nicht einmal, irgendetwas zu sagen, nickte nur stumm auf seine Aussage hin. »Schön, dass wir uns da so gut verstanden haben.« Sie nickte wiederwortlos, hielt den Atem an, als er ihre Lippen streifte und sich dann von ihr entfernte und hinsetzte. Blinzelnd sah sie ihn an, schüttelte kurz den Kopf und machte das Fenster auf. Was war denn das Gerade, bitteschön? Warum hatte er sie so angefasst? Warum? Sie verstand es jetzt noch nicht. Wie auch, bei dieser stickigen Luft. Und bei dem, was gerade passiert war, konnte sie einfach nicht klar denken. Kurz schaute sie geradeaus auf die Kirchenuhr und atmete tief durch. Das wird schon. Sie musste daran glauben, dass es gut werden konnte, sonst würde sie noch komplett am Rad drehen. Nach ein paar tiefen Atemzügen entfernte sie sich wieder vom Fenster, setzte sich neben ihn und sah auf das Blatt. Im Versuch, die Aufgaben durchzulesen. Doch seine Hand auf ihrer hinderte sie daran. Erschrocken schaute sie ihn an, wobei ihr ein paar rote Haarsträhnen ins Gesicht fielen. Mit einem Grinsen nahm er seine Hand weg, strich ihr stattdessen die Haare zurück hinters Ohr. »Mach ich dich so nervös?«, war seine darauffolgende Frage. Betroffen schaute sie auf den Tisch und schüttelte den Kopf. »Nein, es... ich... ich habe von deinen Taten gelesen... Ich... ähm-« Sie konnte es nicht aussprechen, aber das übernahm er ja für sie. »Du hast Angst vor mir oder?« Stumm nickte sie, schaute weiter den Tisch an, nicht im Wagnis ihn auch nur einmal anzusehen oder was auch immer. Er seufzte kurz, dabei konnte sie sein Nicken wahrnehmen. »Du brauchst keine Angst zu haben, ich werde dir nichts tun, solange du mir keinen Grund dazu gibst.« Seine Worte beruhigten sie, halbwegs, irgendwie. »W-wirklich?« Langsam hob sie ihren Kopf und wagte es, ihn anzusehen. Auf den Lippen des Asiaten war ein freundliches Lächeln zu sehen, sein Nicken verriet ihr, dass er es wirklich ehrlich meinte mit seinen Worten. »Du brauchst keine Angst zu haben. Ja, ich bin der, von dem man liest. Aber ich hab auch noch ein privates Leben und da bin ich nicht so drauf. Meistens nicht.« Ein kleines Lächeln trat auf ihre Lippen, sie vertraute ihm, irgendwie konnte sie auch nicht anders. Alles an ihm wirkte, als ob man ihm vertrauen könnte. Ein Lächeln trat auf ihre Lippen. »Wir sollten uns jetzt wirklich auf unsere Aufgabe konzentrieren.« Sie deutete aufs Blatt. Er nickte nur leicht. Auch wenn sie jetzt ein besseres Gefühl hatte als vor ein paar Minuten, hatte sie trotzdem noch Angst vor ihm. Und war froh, wenn sie ihn los war. Sobald die Schule vorbei wäre.

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