1. Leseprobe

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Prolog

Sam atmete langsam tief und geübt ein und aus.

Ihr Herzschlag hatte sich vor Anstrengung verdoppelt, aber sie atmete trotzdem ruhig. Sie hatte die Augen geschlossen und nahm ihren Körper ganz bewusst wahr. Der Beat der Musik ließ den edlen Parkettboden erzittern und durchflutete sie wie flüssige Lebensenergie.

Das war Tanzen für sie. Pures Leben. Leidenschaft. Energie. Liebe.

Bedacht atmete Sam die Luft, die sie kurz angehalten hatte, wieder aus und öffnete die Augen. Sie blickte sich selbst im Spiegel an, der die ganze Wand des geräumigen Fitnessraums einnahm. Sie hob das Kinn und wippte leicht mit dem Fuß im Takt der Musik.

Die Ideen wirbelten durch ihren Kopf, und sie kam überhaupt nicht damit hinterher, sie in Tanzschritte umzusetzen.

Wenn Sam tanzte, blieb die Welt um sie herum stehen, als würde sie alle Bewegungen, die es gab, allein auf sich konzentrieren. Nichts konnte ihr mehr etwas anhaben. All der Stress, die Sorgen und der Kummer schmolzen dahin wie Eis im Sonnenlicht.

„Das gefällt mir ... Ja, das ist gut ...", murmelte sie konzentriert vor sich hin, lief zur Stereoanlage und ließ den Song wieder von vorne ablaufen. Sie wiederholte das, was von der gerade in ihrem Kopf entstandenen Choreografie noch hängen geblieben war, und prägte sich jeden einzelnen Move genau ein.

Und noch mal tanzte sie den Refrain. Und noch einmal. Und noch einmal. Bis er perfekt saß und sie ihn im Schlaf hätte tanzen können.

Choreografien zu entwickeln war so einfach. Alles ergab sich von alleine. Die Bewegungen und Abläufe waren praktisch schon im Lied enthalten, man musste sie nur noch umsetzen. Wenn es nach Sam gegangen wäre, hätte sie am liebsten ausschließlich vom Tanzen gelebt. Tja, wenn das doch nur so einfach wäre.

Nachdem Sam die Choreografie auf einem Video festgehalten hatte, griff sie nach ihrem Handy, wählte eine Nummer und wartete, bis am anderen Ende abgehoben wurde.

„Hey, hast du grad Zeit? Hab was Neues entwickelt", begrüßte sie ihre Freundin Ilona aufgeregt.

„Cool! Bin in zehn Minuten bei dir!", ertönte die begeisterte Antwort, und Ilona hatte schon aufgelegt, ehe Sam noch „Bis gleich" sagen konnte.

Sam und Ilona kannten sich, seit sie in ihrer ersten Hip-Hop-Stunde nebeneinander in dem großen Tanzstudio gestanden hatten. Niemand tanzte so synchron wie sie. Beide waren damals elf gewesen, was bedeutete, dass sie inzwischen seit mehr als einem Jahrzehnt jede Woche mehrmals stundenlang zusammen vor dem Spiegel standen und tanzten. Mal im Studio, wo sie beide unterrichteten, mal bei Sam im Keller, in dem sich ein Fitnessraum befand, und mal in Ilonas Wohnung. Nichts und niemand konnte die beiden auseinanderbringen.

„Ich glaube, das passt voll gut zu unserer Crew!", sprudelte Sam gleich los, als sie Ilona die schwere Haustür öffnete. „Wir könnten erst eins der Mädels anfangen lassen. Eine nach der anderen steigt dann ein, daraufhin tanzen die Jungs, später alle gemeinsam, und zum Schluss folgt so eine Art Paartanz ..."

„Okay, okay, jetzt hol mal Luft und lass mich erst einmal rein", lachte Ilona und wuschelte Sam durch ihre schwarzen Locken, die genauso elektrisiert waren wie sie selbst.

Unten im Fitnessraum des Mietshauses, in dem sich ihre Wohnung befand, angekommen, fing Sam sofort an, die Choreografie zu wiederholen. Ilona setzte sich mit dem Rücken gegen den Spiegel gelehnt auf den Boden und sah ihr mit lässig übereinandergeschlagenen Beinen ganz genau zu. Sie erkannte sofort, dass Sam sehr viele Passagen eingebaut hatte, in denen einzelne Crewmitglieder gegeneinander wie in einem Wettkampf antreten mussten. Das gefiel ihr. Es war dynamisch, explosiv, verwegen und ganz schön sexy. Die Choreo trug eindeutig Sams Handschrift.

„Ich frage mich immer, wie man in so kurzer Zeit so eine ausgefeilte Choreo auf die Beine stellen kann!", rief Ilona begeistert, als Sam die Musik abschaltete und sich, gespannt auf die Reaktion ihrer Freundin, wieder umdrehte. „Ehrlich, du solltest für die ganz großen Stars arbeiten, Sam!"

Sam lächelte nur. Das Thema hatten sie schon oft genug besprochen. Natürlich wollte sie tanzen. Gott, sie wollte nichts anderes tun als tanzen! Aber das war nun einmal nicht so einfach. Die tollen, gut bezahlten Jobs für professionelle Tänzer fielen schließlich nicht vom Himmel. Und die Ausbildungsplätze dafür auch nicht. Und der Mumm, das alles dann auch noch durchzuziehen, erst recht nicht. Leider.

„Wenn wir die nächsten", Ilona sah prüfend auf ihre Armbanduhr, „zwei bis drei Stunden damit verbringen, dass du mir die Choreo beibringst, können wir sie beim nächsten Training morgen schon mit den anderen anfangen." Voller Tatendrang band sie sich ihre wasserstoffblonde Mähne zu einem hohen Pferdeschwanz zusammen. Sie klatschte einmal in die Hände und sah ihre langjährige Freundin auffordernd an.

Sam grinste zurück und drehte die Musik bis zum Anschlag auf.

Dafür liebte sie Ilona. Sie teilte ihre Liebe fürs Tanzen zu einhundert Prozent.

Heartdance - Nur mit dir [LESEPROBE]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt