4. Kapitel

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Die Musik dröhnte durch die Luft.
Die Schallwellen breiteten sich über die wogende Masse aus schwitzenden Leibern aus, drangen ihnen tief unter die Haut und strömten heiß wie Feuer in ihren Venen.
Milena tanzte.

Die Musik pulsierte in ihrem Blut, beschleunigte ihren Herzschlag im hämmernden Rhythmus des Liedes, der Bass drückte wummernd auf ihrer Lunge, ließ ihr Zwerchfell erbeben, während ihre Füße immer schneller den Boden berührten und wieder abhoben.
Ausgelassen schwang sie ihre langen blonden Haare über die Schulter.
Schweiß klebte an ihren Fingerspitzen, als sie sich keuchend über die erhitzte Stirn fuhr.
Sie begann ausgelassen zu lachen.
Schwarzlicht zuckte über die sich schwingenden Körper, beleuchtete umschlungene Gestalten, Mädchen, die ihre Hüften kreisen ließen, zahlreiche Jungs, die lauernd umher blickten und an ihren Bierflaschen nippten.
Aus allen Ecken grölte es, alle warfen die Hände zur Decke, reckten die Fäuste gen Himmel, als würden sie in eine ruhmreiche Schlacht aufbrechen.

"The sun shines on everyone, everyone love yourself to death", pochte es aus den riesigen Lautsprechern, die überall in der Halle verteilt standen.
Ihre Membranen schwangen wie bei einem Erdbeben, als sie die Welt unter sich erzittern ließen, die beflügelten Klänge in Richtung der Menschen ausstießen, die von ihrem Sog erfasst und mitgerissen wurden.
Milena liebte dieses Lied, es verbreitete jene mächtige, alles erfassende Stimmung, der man nicht entkommen konnte.
Das Lied hielt einen in seiner eigenen Welt gefangen, ließ alle Lebensgefühle wieder an die Oberfläche steigen, setzte allem Bedenken ein Ende.
Es war genau das, was sie brauchte.


"So you gotta fire up, you gotta let go.
You'll never be loved till you've made your own.
You gotta face up, you gotta get yours.
You never know the top till you get too low!
"


Immer mehr vergaß sie alles und jeden, sie verdrängte ihre Probleme, ihre Sorgen und Nöte und war frei für diesen einen Moment.
Das war der Grund warum sie Partys so sehr schätzte, warum sie für ihr Leben gern feiern ging.
Man konnte sein wer man wollte, man konnte alles für eine Nacht hinter sich lassen.
Die Musik musste laut sein, damit man nicht hörte, wie die Welt zusammenbrach.
Alles was noch in ihrem Kopf dröhnte, war der Text, war die schreiende Stimme ihres Inneren, ihre Waden, die sich anmutig im Takt bewegten, trugen sie durch den Raum.
Sie war von zahlreichen großen Gestalten umringt, sie wollte über sich hinauswachsen, Milena wollte größer sein, als jeder hier.

Gesichter blitzen in dem rasch wechselnden Licht auf, strahlende Augen, schwitzende Menschen die am ausrasten waren, der Geruch nach Alkohol, Schweiß und Männerparfum schwängerte die Luft, setzte sich in Milenas Atemorganen fest und betäubte ihre Nase.
Sie verlor jegliches Zeitgefühl, gab sich der Musik komplett hin.


"Life isn't always what you think it'd be.
Turn your head for one second and the tables turn.
And I know, I know that I did you wrong.
But will you trust me when I say that I'll
make it up to you somehow, somehow...
"


Die Worte trugen sie, wie Wellen über einen strömten, begruben Milena und rissen sie voll und ganz mit.
Es stimmte. Das Leben war nicht immer so, wie man es gern haben wollte.
Menschen starben, grauenvolle Dinge geschahen und Freunde verrieten einander.
Doch nicht heute, sagte sie sich immer wieder.
Heute würde sie feiern, heute würde sie jegliche Grenzen der Vernunft zurück lassen, heute würde sie das Leben in vollen Zügen genießen.
Heute wollte sie frei sein.

Was auch immer in den letzten Tagen passiert war, es spielte keine Rolle mehr für Milena, sie verstieß ihre trüben Gedanken in die hinterste Ecke, lebte in jener Nacht für diesen einen Moment, in welchem sie über sich selbst herrschen konnte, wo niemand ihr vorschreiben konnte, was sie zu tun oder zu lassen hatte.
Die Jugend war ein Geschenk.
Ein einmaliges Geschenk, das man ausleben sollte, das man in vollen Zügen genießen sollte.
Dunklere Tage würden kommen, eine Welle der Angst würde alle überrollen und in naher Zukunft würde Milena verzweifeln.
Doch dieser Tag, wenngleich er sich schon ankündigte, rückte wieder in weite Ferne, als sie sich immer schneller bewegte.
Warum wagen wo nichts gewonnen, aber alles verloren werden kann?
Der Alkohol rauschte durch ihre Venen, ließ sie alles glänzender und noch gewaltiger wahrnehmen als zuvor.

Zwischen zwei Welten #Wattys2017Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt