Das große Rad des Lebens drehte sich kontinuierlich immer weiter, mit jeder ablaufenden Sekunde schritt die Zeit unaufhaltsam voran.
Die Tage gingen wie gewohnt einer nach dem anderen ins Land, die Sonne beschrieb ihre alltägliche Bahn am winterlichen Himmel und ging jeden Nachmittag früher in einem blutenden Feuerball über der atmenden Hauptstadt unter.
Berlin lebte, wie ein überdimensionales Herz pumpte es den stetig hämmernden Puls durch die Straßen voller Menschen, umhüllte sie mit seinem unverkennbaren Hauch von kultureller Vielfalt und buntem Zeitgeist.
Alles wirkte gänzlich normal, nichts allzu Außergewöhnliches beschäftigte die sich munter auf dem Asphalt tummelnden Einwohner.
Es schien ganz so, als würde niemand den Schatten der riesige Sturmwolke am Horizont bemerken, die nun langsam aber totsicher immer weiter heran rollte, bereit, die Millionenstadt in tiefe Dunkelheit zu stürzen.
Niemand außer Milena Hellmann nahm die schleichende Veränderung wahr, niemand sonst spürte den eiskalten Schemen an seinem Herzen zehren.
Der Wind in ihren blonden Locken fühlte sich so viel kälter an, die Ruhe und das besinnliche Schweigen im Kreise der Liebsten hatten auf einmal etwas bedrohliches bekommen, stumme Panik und Furcht lugten ihr bei jedem ihrer Schritte über die Schulter.
Sie aß kaum noch etwas, ihre Wangen fielen ein, verliehen ihrem Gesicht etwas Gehetztes.
Ihr Schlaf war unruhig und dämmrig, jede Nacht schreckte sie schweißgebadet und schluchzend aus ihren immer wiederkehrenden Alpträumen hoch.
Wann immer sie die Augen schloss, sah sie den finsteren Wald in Brandenburg wieder vor sich.
Sie fühlte wieder ihren vor Todesangst hämmernden Puls, ihren verzweifelten Atem in ihren brennenden Lungen und Florians unnachgiebigen Druck um ihr Handgelenk.
Das schreckliche Unwetter hatte sich nun bereits seit Wochen gelegt und doch tobte der Sturm um Milena herum tosend weiter.
Hilflos musste sie mit ansehen, wie ihr seit der Kindheit so beständiges Kartenhaus direkt vor ihren Augen Blatt für Blatt in sich zusammenfiel und nichts als Chaos zurückließ.
Doch sie schwieg, kein Wort verließ ihre blassen Lippen.
Sie war das Gefäß, welches das in diesem Moment wohl am besten gehütete Geheimnis Deutschlands beherbergte.
Weder ihrer Familie noch Lily gegenüber konnte sie ehrlich sein, sie traute es sich nicht auch nur ein Sterbenswörtchen von dem, was sie an diesem schicksalhaften Wochenende erfahren hatte, der Welt jemals preiszugeben.
Jemand hatte versucht Milena Hellmann zu ermorden und dieser jemand war laut Florians Aussage immer noch dort draußen und wartete in den Schatten auf Vergeltung.
Lange hatte das blonde Mädchen mit sich gerungen, immer wieder hatte sie versucht, das Offensichtliche mit Rationalität abzustreiten, den entscheidenden Funken in diesem Dilemma zu zünden und doch führte ihr Weg durch das Labyrinth aus Lügen und Geheimnissen sie jedes Mal wieder zu dem gleichen Ergebnis.
Sie glaubte Florian, sie glaubte jedes einzelne seiner Worte und auch wenn ihr ganzer Körper sich mit jeder noch so kleinen Faser dagegen wehrte, so konnte sie den Ausdruck in seinen Augen als er ihr die geladene Waffe in die Hand gedrückt hatte, nicht mehr aus ihrem Kopf verbannen.
Sie sah ihn seitdem jeden Tag in der Schule.
Murrend und übellaunig wie immer saß der blonde Hüne, den sie als Max Nebelsburg zu kennen geglaubt hatte, an seinem Platz in der letzten Reihe und heuchelte Desinteresse gegenüber allem und jedem vor.
Die beiden gingen einander geflissentlich aus dem Weg, jeglicher Blickkontakt zwischen ihnen schien ein Verbrechen, sie behandelten einander wie Schall und Rauch.
Kaum betrat der eine den Raum, wandte sich der andere ab und versteckte das Gesicht hinter einer Maske aus Selbstbeherrschung und Eis.
Anders als zuerst von ihr angenommen, kam Florian nicht auf sie zu, sie hatten seit dem Vorfall kein einziges Wort mehr gewechselt.
Was hätten sie einander auch sagen sollen?
Milena hatte versucht ihn zu töten und sie hätte es mit Sicherheit auch getan.
Sie hatte bereits abgedrückt gehabt in dem Wissen, das Max Nebelsburg als Verbrecher und Mörder sterben würde.
Diese Bürde lastete nun auf ihren noch so jungen Schultern und die schiere Ungewissheit über ihre Zukunft brachte sie jede Sekunde aufs Neue an den Rand ihrer tiefsten, psychischen Abgründe.
Colin hatte Recht behalten, sie kämpfte verzweifelt gegen das Ertrinken an, aber von der rettenden Oberfläche war sie nach wie vor viel zu weit entfernt.
Ein kalter Wind war aufgezogen, er brachte den Geruch nach Blut mit sich und doch passierte vorerst nichts im Nibelungenring 13.
Es trafen keine Todesdrohungen oder versteckte Hinweise sonstiger Art ein, die Bestie hielt sich lauernd und mit angelegten Ohren im Schatten verborgen, sie wartete auf den richtigen Moment.
So blieb Milena nichts anderes übrig als irgendwie in den grauen Alltag der Normalität zurückzufinden und das Geschehene zu verarbeiten.
Sie saß in der Schule, ihre glasigen Augen fixierten die Tafel, wie mechanisch fuhren ihre Finger über die zahllosen Blätter und schrieben Worte, die sie von ihrer Bedeutung nicht einmal annähernd verstand oder überhaupt wahrnahm.
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Zwischen zwei Welten #Wattys2017
Science Fiction"Wer mit Streichhölzern spielt, wird irgendwann, wenn auch unabsichtlich, ein tödliches Feuer entfachen. Sicherheit existiert nicht. Sie ist nur eine Illusion, nicht mehr als ein fragiles Glashaus. Mach dich darauf gefasst, es zerbersten zu sehen." ...