Es gibt einen bestimmten Moment in jedem Leben, diesen einen alles entscheidenden Punkt, ab dem es kein Zurück mehr gibt.
Wo das Individuum selbst keine Wahl mehr hat und nur noch ein letzter Weg existiert, den es beschreiten kann um zu überleben.
Worte können nicht korrigiert, Taten nicht ungeschehen gemacht und verlorene Leben nicht zurückgegeben werden.
Die Vergangenheit steht dann bereits geschrieben und niemand, absolut niemand, kann die getrockneten Buchstaben auf der rissigen Buchseite mehr ausradieren.
An diesem besagten Punkt stand nun auch Milena, stumm wie eine wachende Statue blickte sie auf ihre kleine Schwester hinab.
Der schrecklich bizarre Anblick vor ihr fesselte ihre gesamte Aufmerksamkeit an das sterile Bett.
Sie sah so jung aus wie sie da vor ihr lag, so unschuldig mit ihren geschlossenen Augen und den langen schwarzen Wimpern, die ganz behutsam auf ihren blassen, von Sommersprossen übersäten Wange aufsetzten und sie zerbrechlich wirken ließen.
Und doch stachen Milena die tiefblauen, sich an den Rändern bereits violett färbenden Flecke auf ihrer zarten Haut wie Schandmale ins Auge.
Seen, in ihren Tiefen gefüllt mit Veilchen und funkelnden Opalen, in Wahrheit nichts als zerstörte Blutgefäße und undichte Stellen im Organismus.
Lucy sah auch zwei Tage nach dem Unfall noch arg zugerichtet aus, es schien ein wahres Wunder, dass das schwach atmende Wesen vor ihr überhaupt noch lebte.
Jede freie Minute hatte ihre große Schwester an ihrem Bett oder dem ihrer Mutter gestanden, ihre Fingerkuppen waren inzwischen eingerissen, die Nagelbetten blutig gekaut.
Sie hatte gehofft, gebangt, die Hände verzweifelt über dem Kopf zusammengeschlagen wann immer die Ärzte ohne ein Wort an ihr vorbei gerannt waren, hinein in die dunklen Operationssäle, in grünen Kitteln hin zu den großen Tischen und immer ihrer harten Pflicht bewusst.
Sie hatten ihre Mutter operiert, ihr Blut und Analgetikum verabreicht, den kleinen aber dennoch lebensbedrohlichen Riss in ihrem Lungenfell mit meisterhafter Präzession geflickt.
Ihr Körper erwachte langsam wieder zum Leben.
Dutzende Kabel und Schläuche lagen derweil in ihren Venen und um ihren geschundenen Körper, überwachten stetig alle wichtigen Vitalwerte, rot verlief die Kurve ihres pulsierenden Herzschlags auf dem Computerbildschirm.
Auch Lucy wurde im Nebenzimmer weiterhin strengstens beobachtet, die behandelnden Ärzte wollten unbedingt sicherstellen, dass ihr mittleres Schädelhirntrauma ohne Langzeitwirkungen von statten ging.
Ihre Verletzungen wären weitaus gravierender gewesen, wenn der weiche, frisch gefallene Schnee den Aufprall des Fahrzeugs nicht abgefedert hätte.
Auch Ilona hätte wohl mit großer Sicherheit ihre letzten Atemzüge auf dem einsamen Feld getan, wenn der schwarze Wagen statt in die hintere Flanke des Autos in die vordere gekracht wäre.
Wenige Zentimeter hatten Milenas Mutter vom sicheren Tod getrennt, eine einzige Handbreit hatte sie überleben lassen.
Das zerstörte Auto hatte man inzwischen vollständig geborgen, die Landstraße nach Berlin war wieder für den öffentlichen Verkehr freigegeben, die Polizei suchte nun erbittert nach Spuren des geisterhaften Täters.
Ilonas Zeugenaussage nach ihrem Erwachen bestätigte Milenas ersten Verdacht und sorgte für Stirnrunzeln unter den Kriminologen.
Ohne Nummernschild oder Fahrzeugnummer standen die Ermittler vor einem Rätsel und konnten auch weiterhin nur Vermutungen über die Hintergründe des Vorfalls anstellen.
Milenas Vater, Frank Hellmann, und selbst ein angesehener Beamter der Berliner Polizei, schien sich in seinen Dienstjahren einige Feinde gemacht zu haben.
Feinde, die den hochrangigen Wachtmeister nun tot sehen wollten und dafür keinerlei Mittel oder Wege scheuten.
Natürlich hatte der schon etwas in die Jahre gekommene Mann in seinem Berufsleben dutzende Menschen hinter Gittern gebracht und es gab mit Sicherheit viele, die ihm wegen seinem strengen Vorgehen nach dem Leben trachteten.
Rund um die Uhr standen zwei bewaffnete Polizisten vor den beiden Türen im Krankenhaus, niemand außer den Hellmanns und einigen ausgewählten Freunden der Familie durfte die Räume neben den Ärzten und Schwestern betreten.
Sicherheit durch Kontrolle.
Aber sie alle waren blind gegenüber der Wirklichkeit.
Nur Milena wusste wem der Angriff eigentlich gegolten hatte, wen die schwarzen Fahrer in ihrem unregistrierten Auto hatten treffen wollen und das war ganz sicher nicht ihr Vater gewesen.
Florian hatte sie gewarnt, er hatte es ihr immer wieder gesagt und nun hatten ihre Mutter und Lucy den Preis für ihre Ignoranz zahlen müssen.
Sie hatte versucht sie mit allen Mitteln vor der Wahrheit zu schützen, immer wieder hatte sie sich um ihretwillen auf tödliche Risiken eingelassen nur um am Ende zu erkennen, dass sie ihre Familie mitten ins Kreuzfeuer geführt hatte.
Ein weiteres Mal würde man die Menschen, welche sie am meisten auf der Welt liebte, nicht verfehlen, dann würden die Kugeln ihr Ziel treffen.
Dann würde es Tote geben.
Und genau das war dem jungen Mädchen klar geworden, dieser Gedanke hatte sie an den besagten Punkt gebracht, wo sie nun stumm und von Vorwürfen geplagt verharrte.
Sie kannte den Weg, die Zeit für Entscheidungen war abgelaufen.
Doch dieser eine ausstehende Schritt würde alles für sie verändern, sie würde damit eine finale Grenze überschreiten.
Der Gedanke an den dunklen Pfad vor ihr ließ sie bis ins Mark frösteln und doch fühlte sie im selben Atemzug auch eine gewisse Erleichterung, denn die schrecklich quälende Ungewissheit, welche sie seit dem Vorfall im Wald und der anschließenden Konfrontation mit Florian befallen hatte, war verschwunden.
Und so trug sie diese Bürde auf ihren schmalen Schultern wie einen gepackten Rucksack, bereit die Reise in die Hölle anzutreten.
Ein letztes Mal sah sie auf ihre schlummernde Schwester hinab, außerhalb des Krankenhauses rieselte leise der Schnee zu Boden, während das Licht schleichend schwand und der Schwärze der Nacht den Himmelsthron überließ.
Milenas Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln als sie sich zu dem kleinen, hilflosen Wesen hinab beugte und ihr einen sanften Kuss auf die Stirn hauchte.
"Es wird alles wieder gut, Lu. Das verspreche ich dir", flüsterte sie und versuchte die aufsteigenden Tränen zurückzuhalten.
"Dir wird nie wieder jemand schaden, du brauchst keine Angst mehr haben. Ich werde dich beschützen."
Ihre Stimme war belegt als sie sich wieder erhob und sich die blonden, vom langen Warten ganz zerzausten Locken aus dem Gesicht strich.
Schnell fuhr sie mit den Fingern über ihre geröteten Augen.
Leise wandte sie sich von dem Bett und den surrenden Geräten ab und durchquerte mit großen Schritten den Raum, an der geschlossenen Tür verharrte sie.
Ihre Schwester war nicht aufgewacht, sie lag noch genauso zerbrechlich unter den weißen Laken wie zuvor, ein zartes Vögelchen mit gebrochenen Flügeln und des Himmels beraubt.
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Zwischen zwei Welten #Wattys2017
Science Fiction"Wer mit Streichhölzern spielt, wird irgendwann, wenn auch unabsichtlich, ein tödliches Feuer entfachen. Sicherheit existiert nicht. Sie ist nur eine Illusion, nicht mehr als ein fragiles Glashaus. Mach dich darauf gefasst, es zerbersten zu sehen." ...