Ich klappte das Buch zu und stand auf. Es waren genug Erinnerungen für einen Abend. Ich öffnete die braune Umzugskiste und legte das Buch zu einigen anderen Sachen, die ich Minuten vorher schon dort verstaut hatte. Ich seufzte als ich den Karton schloss. Ich verpackte in ihnen mein ganzes Leben. Naja , jedenfalls das, was ich daraus mitnehmen wollte. Der Papierkorb, der neben meinem Bett stand, hatte sich ebenfalls schon gut befüllt. Größtenteils waren leere Flaschen und Müll darin gelandet, die ich in meinem Zimmer gehortet hatte. Ich war kein Messie, ich hasste es einfach nur aufzuräumen. Aber ich muss zugeben, dass es manchmal wirklich nicht von einander zu unterscheiden war.Ich stellte mich ans Fenster und sah hinaus. Die Straßen von Tucson waren hell erleuchtet, auch wenn es schon spät abends war. Ich mochte es, in einer großen Stadt zu leben. Man konnte wenn es dunkel war rausgehen, ohne dass man Angst haben musste, seine eigene Hand vor Augen nicht mehr zu sehen und über die eigenen Beine zu stolpern. Ich blickte in die Ferne und sah die warme Lichter der Hochhäuser, die am Horizont funkelten wie kleine Sterne und wusste, dass es mein letzter Abend in meinem Zuhause sein würde.
Mein Atem ließ die Scheibe beschlagen und ich hatte Mühe, die Lichter noch richtig zu erkennen. Von unten drang ein Rumpeln an mein Ohr, das mich aus meinen Gedanken riss. Ich wandte mich vom Fenster ab und verließ mein Zimmer. Von der Treppe aus sah ich nach unten und hörte, wie meine Brüder sich unterhielten. Caleb, der in diesem Jahr neun Jahre alt geworden war, freute sich unheimlich auf den Umzug und schleppte seine Kisten schon in den Flur, damit er morgen der Erste war, der sie ins Auto laden konnte. Dass seine Rechnung nicht ganz auf ging, versuchte ihm keiner zu erklären, zu groß war seine Euphorie.
Ich ging zurück in mein Zimmer und schloss die Tür. Ich hatte noch einiges zu tun, auch wenn ich keine Lust darauf hatte. Zufällig fiel mein Blick auf etwas, was ich schon seit langer Zeit nicht mehr gesehen hatte. Es klemmte hinter dem Fernseher. Ich fragte mich, wie es wohl da hin gekommen war. Es fühlte sich kalt und dreckig an, als meine Finger die Oberfläche berührten. Der aufgewirbelte Staub brachte mich zum husten.
Ich rieb mir die Nase und sah auf die schmalen Verzierungen auf dem Deckel. Sie waren in feinster Handarbeit aufgetragen worden und auch wenn sie jetzt schon reichlich verblasst waren, sahen sie doch wunderschön aus. Ich spüre ein mulmiges Gefühl in mir aufkommen. Mein Magen fühlte sich an, als würde er sich doppelt und dreifach um sich selbst winden. Ich klappte das kühle Metall nach hinten und betrachte die zierliche Figur, die anfing sich zur aufkommenden Melodie im Kreis zu drehen.
Als ich noch klein war, hatte mir Mom die Spieluhr immer neben mein Bett gestellt und sie laufen lassen, bis ich eingeschlafen war. Jahrelang hatte ich sie an meiner Seite. Ich konnte irgendwann nicht mehr einschlafen, ohne dass ich die Melodie gehört habe. Und dann irgendwann, da war es nicht mehr so. Solang ich denken kann, habe ich dieses Lied, das mir jeden Abend durch den Kopf gegangen ist, mit meiner Mutter verbunden. Ich habe ihre warme Hand gespürt, die mein Haar gestreichelt hat und ihre melodische Stimme, die leise zur Melodie gesummt hat.
Mit einem Ruck klappte ich die Spieluhr wieder zu und ließ sie verstummen. Ich spürte, wie mein Atem zittriger wurde. Während ich auf die verstaubten Bemalungen starrte, verschwamm langsam die Erinnerung vor meinem inneren Auge. Mit einem dumpfen Geräusch schlug die Spieluhr im Papierkorb auf und ich konnte genau hören, wie etwas auseinander brach. Ich schenkte ihr keine weitere Beachtung, ich wollte diesem Kapitel meines Lebens keine Beachtung mehr schenken. Denn dieses Kapitel war schlimmer als alle Kit Hudson Küsse der Welt.
Das letzte Mal habe ich meine Mutter am Morgen des dreißigsten Oktobers gesehen. Es war ein regnerischer Tag. In Tucson regnete es selten, selbst im Oktober. Wohl genau so selten war es, dass meine Mutter zu Besuch kam. An diesem Tag war ihr Auszug fast genau einen Monat her. Ich hatte ihre Stimme schon gehört, als ich noch eine Etage weiter oben in meinem Bad stand und mir die Haare gekämmt habe. Als ich nach unten gegangen bin, habe ich sie nur eine Sekunde lang angesehen, danach haben sich unsere Blicke nicht mehr getroffen. Seit dem Tag ihres Auszugs hatte ich kein Wort mit ihr geredet. Natürlich beruhte das nicht auf Gegenseitigkeit. Zu oft hatte sie versucht, mit mir zusprechen.
Aber ich wollte es einfach nicht. Zu sehr hasste ich sie für das, was sie getan hatte.
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Refugium
Teen FictionCassie ist frustriert. Nach der Trennung ihrer Eltern zieht sie mit ihren Brüdern und ihrem Vater in eine neue Stadt. Doch nicht genug, dass dort alles langweiliger ist als zuhause, auch die zwei seltsamen Typen, auf die sie trifft machen es nicht b...