Kapitel 10

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Sam setzte den Blinker und wechselte den Highway. Wenig später schaltete er das Radio ein. Aus den Boxen, die sicherlich schon bessere Zeiten gesehen hatten, dröhnte nun das, was ich gehofft hatte, umgehen zu können. Country Musik. Sam war schon, ich weiß eigentlich nicht genau wie lang schon, Fan dieser, wie ich es gern nenne, "Ohrenvergewaltigung". Bei jeder, mehr oder weniger passenden, Gelegenheit kramte er seine alten CD's raus und beschallte uns damit. Das einzig amüsante an der Sache war das Gesicht, das er stets dann zog, wenn seine Lieblingsstelle des jeweiligen Liedes erklang. Immerzu öffnete er dann seinen Mund soweit er konnte und sang lautlos mit. Wenn wir nicht so viel Glück hatten, war es nicht lautlos, sondern verängstigend krächzend. 

Sam war sicher nicht der beste Sänger, aber ich musste zu meinem Bedauern zugeben, dass er unterhaltsam war und dass seine Lebensfreude von nichts und niemandem getoppt werden konnte. Ich strich mir die Haare aus dem Gesicht, die mir soeben ins Blickfeld gefallen waren und lehnte mich wieder zur Seite. Alles, bloß nicht dieses Lied. Ich schlug stumm die Hand an die Stirn, kurz bevor mein Vater begann, mit einzustimmen. Und das, was man hörte, war alles andere als leise. Caleb lachte. Die ganze Zeit hatte er mit seinem Nintendo DS das neuste Pokémon Spiel gespielt, was er wiederum zu Weihnachten geschenkt bekommen hatte. Erst jetzt gab er ein Lebenszeichen von sich. Er legte das Spiel zur Seite und lehnte sich nach vorn. Caleb saß neben Asher, da der Beifahrersitz kurzerhand zu Sams persönlichem Assistenten umfunktioniert worden war. 

Auf ihm lagen die Landkarte, eine Thermoskanne, die mit frisch gebrühtem Kaffee befüllt war, Notizen und Essen für die Zwischenstopps. Davor war außerdem noch ein Kaffeebecher angebracht. Und somit blieben uns nur die hinteren drei Sitze. Zwei goldene Tickets und eine Arschkarte sozusagen. Nun begann auch Caleb mitzusingen. Er kannte das Lied, ebenso wie Asher und ich, weil wir es als Kinder nahezu jeden Tag gehört haben. Während Sam „Country Roades, take me home to the place, where I belong." krächzte, fragte auch ich mich, wann mein Weg mich wohl zu dem Ort bringen würde, wo ich hingehörte. Oder wenigstens Sams Gesang nicht mehr hören musste. 

Asher sagte kein Wort. Ein prüfender Blick verriet mir, dass er eingeschlafen war. Wie zum Teufel konnte man bei so einer Ohrenqual schlafen? Nach sechzehn Jahren war er mir immer noch ein Mysterium und ich glaubte nicht, dass sich das irgendwann einmal ändern würde. So, wie manche Dinge einfach immer beständig blieben. Das Fließen des Wassers zum Beispiel. Oder rinnende Sandkörner in den Händen der Zeit.


Abermals fischelte ich nach meiner Tasche. Diesmal konnte ich sie greifen. Sie musste durch die Fahrt ein Stückchen nach vorn gerutscht sein. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich keine Ahnung, wie lang wir schon gefahren waren. Ich verlor mein Zeitgefühl immer mehr, je weiter wir fuhren. Ich klipste meine Leselampe an das Buch, das ich vor zwei Wochen begonnen hatte. Es war ein Gedichtband von William Wordsworth. Meine Fingerkuppen strichen über das leicht angeraute, mit kleinen Lettern bedruckte, Papier. Jedes Mal wenn ich dieses Buch aufschlug, spürte ich ein Stückchen Freiheit. Das Gefühl, an nichts gebunden zu sein und sich einfach zwischen den Zeilen zu verlieren, war großartig. Es war, als würde man einen nahezu unbezwingbaren Berg hinaufsteigen und dann, ganz oben an der Spitze angekommen, einen tiefen Zug der reinen Luft einatmen. Wie ein Fall aus großer Höhe ohne Aufprall. 

Es war genauso, wie es Wordsworth selbst in seinem Gedicht erzählte, als er völlig unerwartet ein Meer aus Narzissen sah. Das Herz, wie es einen Satz machte, so war es bei mir wenn ich las. Ich hatte schon immer eine gewisse Schwäche für britische Dichter gehabt, wobei ich sagen muss, dass ich die Deutschen ebenso vergötterte. Wer auf diesem Planeten liebte Goethe nicht? Vor ein paar Jahren hatte ich einmal die Phase, dass ich unbedingt Deutsch lernen wollte, um die Gedichte besser zu verstehen. Ich mäkelte an der Übersetzung und hatte doch keine Ahnung, was daran falsch sein sollte, da ich nicht mal das Original verstand. Irgendwo hatte ich wohl aufgeschnappt, dass das Original immer besser sei als die Übersetzung und dann habe ich das ohne darüber nachzudenken übernommen. 

Meine Eltern hatten mir damals ermöglicht, einen Deutschkurs zu besuchen. Anfangs lief alles gut, es machte mir Spaß und ich ging gern hin. Mit der Zeit verlor ich allerdings das Interesse daran. Denn in dem Moment, als es über einfache Begrüßungsfloskeln hinaus ging und die Grammatik ans Tageslicht trat, war ich raus. Goethe lese ich heute noch, allerdings auf Englisch, nicht auf Deutsch.

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