Ein Thread mit dem Titel »Lasst uns das Schicksal herausfordern!«
und aus Neugierde wurde Ernst.
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Ich laufe ein letztes Mal durch die vereinsamte Wohnung, schalte überall das Licht ab und überlege einen Moment, ob ich mein Bett noch machen sollte, entscheide mich aber doch dagegen und packe stattdessen noch ein paar CDs, Decken und eine Wasserflasche in den VW. Als ich die Wohnung hinter mir schließe, habe ich das Gefühl, der Schall der ins Schloss fallenden Tür hallt mir noch ewig hinterher. Wie ein monotones Abschiedslied ohne Melodie. Und genauso fühle ich mich, als ich den Motor starte und all jenes hinter mir lasse, was einst mein war. Monoton.
Der Stoff des Fahrersitzes schmiegt sich um meine breiten Schultern, als ich mich an einer roten Ampel gemütlich nach hinten lehne und den Navi einschalte. Als erstes hole ich den Duke ab. Der wohnt nicht weit von meinem Heimatort. Sollte ich ohne Navigator problemlos ausfindig machen. Die Sonne steht noch nicht zentral am Horizont, prallt dennoch achtlos herab und in die teils ziemlich verschmierten Fensterscheiben herein und mir wird bewusst, dass ich meine Sonnenbrille nicht mitgenommen habe. Ich taste das Handschuhfach ab und werde fündig. Sie ist mir etwas zu groß, erinnert entfernt an John Lennon. Könnte tatsächlich Damirs Vater gehören, obwohl ich ihn noch nie mit dem Teil rumlaufen habe sehen. Wundert mich ehrlich gesagt nicht.
Meine Hände fühlen sich auf dem Lenkrad schwitzig an. Vom Rückspiegel baumelt ein Traumfänger, von dem ich weiß, dass Darko – Damirs jüngerer Bruder – ihn gebastelt hat. Das haben sie an einem Vormittag im Kindergarten gelernt. Seitdem war er so sehr von seinem neuen Können begeistert, dass er noch wochenlang welche vom Kindergarten mit Nachhause schleppte. Inzwischen ist der halbe Flur mit den Teilen dekoriert, wodurch - laut Damir – die ganze Bude mehr an ein Indianerzelt, als an ein Heim erinnert. Beeindruckend, wie Kinder sich voll und ganz den Dingen widmen, die sie mit Leidenschaft erfüllen. Einfach, weil sie es möchten und nicht, weil sie es müssen. Ich glaube, das ist eine Gabe, die beim Erwachsen werden verloren geht.
Sie trägt ihr blau geblümtes Kleidchen, das im Winde weht, wenn sie sich dreht. Ihr kindliches Lachen - wie ein Orchester aus tausend Streichinstrumenten. Gebrechliche Arme, die sie ausbreitet. Als würde sie aus purem Glück die ganze Welt umarmen; bereit, von ihr aufgefressen zu werden.
Ich zucke augenblicklich zusammen und kann den Wagen in letzter Sekunde zurück auf seine Spur lenken. Ein mir entgegenkommendes Auto hupt hysterisch, der aufbrausende Fahrer zeigt mir den Mittelfinger durch die Windschutzscheibe, flucht irgendetwas vor sich hin, bevor er aus meinem Blickwinkel schwindet. „Wichser", nuschle ich barsch und fahre an den Seitenstreifen. Meine Hände sind zittrig, blass wie Porzellan. Ich schlage sie mir vors Gesicht und atme tief durch, versuche die Erinnerung wegzuatmen. Erst ein, dann aus, dann ein und wieder aus. „Komm schon, reiß dich zusammen!" Verärgert über meine eigene Reaktion, greife ich nach der - inzwischen pisswarmen - Wasserflasche, um meine trockene Kehle loszuwerden, während ich mit der anderen Hand ein Fenster öffne. Als ich mich wieder beisammen habe, dauert es nicht mehr lange und ich habe mein erstes Ziel erreicht. Unfallfrei. Welch Wunder.
„Wo kann ich dich abholen?", tippe ich in mein Smartphone und schicke die Nachricht an Duke. Zwischenzeitlich stehe ich am Busbahnhof. Irgendwo im Nirgendwo; dort, wo man wahrscheinlich nicht mal stehen darf.
„McDonaldssss"
McDonaldssss. Na klar, wenn ich da arbeiten müsste, würde ich wahrscheinlich auch ganz schnell das Weite suchen.
Die Parkplätze sind beinahe alle belegt, aber ich habe es gar nicht nötig, mir überhaupt die Mühe zu machen. Als ich in die Einfahrt biege, kommt der Typ nämlich auch schon direkt auf den weißen Van zu. Breite Schultern, üppige Figur, trägt ein Marvel Cappy und Moment mal, kommen mir diese hässlichen Beats nicht irgendwoher bekannt vor?
„Hey Joschka!", brüllt und grinst über beide Ohren, als er die Beifahrertür aufreißt, um seinen noch fülligeren Rucksack reinzuwerfen. „Damit hast du wohl nicht gerechnet, was?" Und zum ersten Mal in meinem Leben bin ich völlig sprachlos. Ich weiß wirklich nicht, ob ich ihm eine rein hauen soll oder ihn hier und jetzt einfach stehen lasse, weiterfahre, unterwegs einen Obdachlosen aufklaube und ihn als den "echten Duke" ausgebe.
„Oli? Du?" - „Nein, ich bin Duke." Da ist er auch schon im Wagen und knallt die Tür schwungvoll hinter sich zu. „Oli ist mein Spitzname. Im Tunnel. Eigentlich heiße ich Nikolai. Aber normalerweise nennt man mich Duke Ryxx – Schnell wie nixx!", dabei fuchtelt er seltsam mit seinen Armen um sich und betont das „r" so übertrieben und unglaubwürdig, dass man meinen könnte, er habe noch nie eine Englischklasse besucht. Ich blinzle ihn perplex an. „Du erwartest nicht wirklich, dass ich dich so anspreche oder?" - „Na klar. Wieso nicht?" Einmal tief durchatmen. Nicht die Beherrschung verlieren. „Ehrlich gesagt kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass dich auch nur eine einzige Person aus deinem näheren Umfeld so nennt, jetzt mal abgesehen von den ganzen Gamern, die du aus dem Internet kennst und die keine Ahnung von deiner wahren Identität haben." Mit diesen Worten fahre ich los.
„Keine Ahnung von meiner wahren Identität", wiederholt er meinen Satz gedankenverloren, als würde ihn meine Aussage wirklich beschäftigen. Eine Weile ist es still. Man hört lediglich den Motor tuckern und hin und wieder den Blinker, den ich setze. Schließlich äußert Duke sein überaus aufschlussreiches Resümee: „Also so wie Batman. Cool!"
O nein, bitte nicht.
"Aber sag mal, was soll'n das komische Teil auf deiner Nase da? Bist du irgendwie 'n Hippie oder so?" Mit seinen Wurstfingern deutet er mir direkt in die Visage.
Lieber Gott, falls es dich gibt, womit habe ich bloß diesen parasitären Beifahrer verdient?

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Ziemlich nah dran
Teen Fiction»Am Ende spielt es keine Rolle, was du erlebt hast und was nicht. Was du gesehen hast, was du geschmeckt hast, was du gefühlt hast. Weil alles nur relative Empfindungen sind. Nichts, dass du mitnehmen kannst. Vergänglich wie die Zellen, aus denen de...