»Vielleicht hat er ja nen Knall«, lachten sie und weckten damit eine Bestie.
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Hätte ich die letzten Tage bewusst genießen sollen? Löffelweise wie den letzten übrig gebliebenen Becher Schokoladenpudding, den man noch im Kühlschrank stehen hat? Stückchen für Stückchen. Ich hätte noch locker eine Handvoll irrelevanter Dinge tun können. Einfach nur, um sie getan zu haben.
Einen Tag vegetarisch leben, einer alten Dame über die Straße helfen, eine Brieftasche verlieren, Briefmarken sammeln und nach Farben sortieren, einen Song über Pommes schreiben, Staubsaugen, die Star Wars Episoden noch ein letztes Mal anschauen, den grimmigen Nachbarn um etwas Milch und Eier bitten, dem grimmigen Nachbarn Milch und Eier an die Fenster schmieren, unter freiem Himmel schlafen, einen Hund adoptieren, mal wieder ein schönes Mädchen mit Nachhause nehmen, einen Kasten Bier klauen, einem Fremden ein Kompliment machen.
Die Tage zogen rasch wie Wimpernschläge an mir vorbei. Zu schnell, als dass ich sie hätte halten können.
Es ist der bedeutungslose Abend des bedeutungslosen dritten Tages, als ich auf der Terrasse der leeren Zweizimmer-Wohnung stehe und in die vertraute Finsternis blicke, herab auf die trüben Lichter der Stadt, die unterschiedlich farbigen Autodächer und Regenschirme der Menschen. Ich beobachte, wie sie über den brüchigen Asphalt hinweg schweben und schließlich aus meinem Blickfeld schwinden, male mir präzise Gesichter und abstrakte Geschichten zu ihnen aus und frage mich, was sie heute erlebt haben. Frage mich, was ich heute erlebt habe.
Doch am Ende spielt es keine Rolle, was du erlebt hast und was nicht. Was du gesehen hast, was du geschmeckt hast, was du gefühlt hast. Weil alles nur relative Empfindungen sind. Nichts, dass du mitnehmen kannst. Vergänglich wie die Zellen, aus denen dein gesamter Körper besteht.
Und wenn du keine Taten vollbringst, die die Menschheit so bewegen, erschüttern oder verängstigen, dass sie in die Geschichtsbücher eingehen, dann werden sie von der Erde verschlungen, begraben, vergessen. Deine ganze Existenz, zerfressen von unzähligen kleinen Bakterien tief in der Erde. Für immer. Ich werde verschlungen wie die Spitzmaus von der Natter. Nicht jetzt, aber bald. Mit einem Happen. Einfach weg, ohne, dass es jemand mitbekommen wird. Ich lächle zufrieden in die Nacht hinein und sie lächelt zufrieden zurück.
Ein kräftiger Schluck aus der Flasche Becks in meiner rechten Hand. Ich recke mich über die Reling des Balkons, um auf die Köpfe und Schirme vorbei laufender Passanten zu spucken. Sie würden es direkt abkriegen und es nicht merken, nicht reagieren. Sie würden denken, es wäre der Regen und sie würden sich mit diesem Gedanken zufrieden geben, weil sie es nicht anders kennen.
Da vibriert es wie aus dem Nichts in meiner Hosentasche
00:18 Uhr | Joschka... kannst du auch nicht schlafen? - Océane
Nüchtern stecke ich das Handy zurück. Jetzt auch noch für die Kleinen den empathischen Seelsorger zu spielen, zählt nicht zu meinen Aufgaben. Wenn sie kurz vor der Reise ihren Schwanz einziehen möchte, soll sie dies ruhig tun. Es belastet mich herzlichst wenig, eine dieser Nervensägen weniger am Hals zu haben.
Ich kippe den restlichen Inhalt meines Biers ohne abzusetzen runter, meine Kehle kribbelt angenehm und ich starre gen nächtlichen Horizont empor. Als ich noch sehr klein war, habe ich mir vorgestellt, dass der Nachthimmel, schwarz und mit funkelnden Sternen bedeckt, die Strickdecke Gottes ist. Wenn der Tag verstrichen ist, nimmt er seine dunkelblaue, weiche Decke und legt sie behutsam über die Welt, damit jeder friedlich schlafen kann. Mich deckt er schon lange nicht mehr zu.
Die leere Flasche fühlt sich in meiner Hand kühl an - wie mein Herz. Ich lasse sie über den Balkon fallen, sehe ihr zu, wie sie einige wilde Saltos schlägt, das Licht der Autoscheinwerfer reflektiert, und ihre Silhouette schließlich von der Dunkelheit verschluckt wird. Sie zerschellt mit einem dumpfen Geräusch in unzählige kleine Splitter und Scherben. Vielleicht wird sie Jemand übersehen, sich daran schneiden. Ich denke, dass das eigentlich eine gute Metapher für all jenes ist, was mich ausmacht.
Mein Atem zeichnet malerische Ornamente in die Luft. Nebelspuren, die meinem Mund entweichen, der Nacht entgegen strömen wie stumme Worte und tausend Fragen. Es ist inzwischen zu kalt geworden, um hier draußen in einem T-Shirt rumzulungern, also ziehe mich zurück in die beheizte Wohnung. Barfuß tapse ich durch das unaufgeräumte Wohnzimmer - hier ein paar offene Videospielhüllen, dort eine ungewaschene Boxershorts - in die ebenfalls unaufgeräumte Küche - ausnahmsweie ohne ungewaschene Boxershorts - und schnappe mir die Packung Chips auf der Theke. Damit ausgestattet, schlender ich wieder in mein komfortables Wohnzimmer und schmeiße den Fernseher an. Das Programm ist lahm. Die Chips sind labbrig. Mein Blick schweift zur Uhr. Aus irgendeinem mir nicht bekannten Grund, ziehe ich mein Handy hervor.
00:39 Uhr | Schlafen. Wie geht das nochmal? - Joschka
Ich ziehe die Beine an, sodass ich quer wie ein Sack Kartoffeln auf der Couch liege und drücke permanent auf der Fernbedienung rum. Moment, ist das die Wiederholung von Schlag den Raab? Das Handy meldet sich zu Wort. Meine Rettung. In gewisser, absurder Weise.
00:42 Uhr | Ich hatte gehofft, du könntest mir das verraten. - Océane
00:43 Uhr | Schließ die Augen. - Joschka
00:44 Uhr | Und dann? - Océane
00:44 Uhr | Denk an etwas schönes. - Joschka
Für einen kurzen Moment fallen mir selbst die Augen zu, im Hintergrund höre ich die monotonen Stimmen diverser Politiker, die über die Effizienz des deutschen Waffenexports lügen. Es verstreichen einige Minuten bis ich eine Antwort von ihr erhalte. Das Display blendet mich unachtsam, sodass ich ein paar Mal blinzeln muss, bis sich meine Augen an das helle Licht gewöhnt haben und die Nachricht entziffern können.
00:52 Uhr | Mir fällt nichts ein.... - Océane
Ich muss nicht überlegen.
00:52 Uhr | Das Meer. Denk ans Meer. - Joschka
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Ziemlich nah dran
Ficção Adolescente»Am Ende spielt es keine Rolle, was du erlebt hast und was nicht. Was du gesehen hast, was du geschmeckt hast, was du gefühlt hast. Weil alles nur relative Empfindungen sind. Nichts, dass du mitnehmen kannst. Vergänglich wie die Zellen, aus denen de...