Kapitel I

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»Ist es nicht faszinierend, wie mächtig ein Mann mit einer Waffe in den Händen ist? Wie er für einen Augenblick göttergleich Leben auslöschen kann, auf Knopfdruck?«

Der Plan steht fest.

Genau genommen tut er das schon seit drei Monaten, einer Woche und zwei Tagen.

Er kommt mir dennoch surreal vor. So unnahbar. Allein ein spärlicher Gedanke von weniger als einem Augenblick genügt, um mich in einen erdrückenden Zustand der Unruhe zu versetzen. Ich kann nicht mehr still sitzen, mich auf kein explizites Themengebiet länger als zehn Minuten konzentrieren, ohne dass meine Fantasien mich wieder auf komplexe Umwege leiten. An Essen und Schlaf ist gar nicht erst zu denken. Manchmal versuche ich es dennoch. Dann, wenn selbst Energy Drinks nicht mehr in der Lage sind, meinen schweren Augenlidern die Erschöpfung zu nehmen. In solchen Nächten liege ich wach auf meinem Bett, vernehme lediglich meinen Atem - das gleichmäßige Heben und Senken meiner Brust - das rhythmische Ticken der viel zu lauten Uhr. Genau dann ist es besonders schlimm. Die Stille umgibt mich von allen Seiten wie ein undurchlässiger Schleier, der mich umfasst und nicht mehr loslässt, und die Stimmen in meinem Kopf werden wach, die Vorstellungen präziser. Oft liege ich stundenlang so da, gehe jeden Schritt kategorisch durch und male mir die Details so exakt aus, das ich das Gefühl habe, das alles schon einmal erlebt zu haben. Und obwohl ich in diesen Momenten ein angenehmes, Vorfreude verheißendes Kribbeln empfinde, das sich von meiner Magengrube bis hin zu meinen Fingerspitzen zieht, vermeide ich meine nächtliche Bettruhe inzwischen. Denn der Enthusiasmus, der mich durchströmt, raubt mir noch den letzten Funken Energie, der sich in meinem schlaffen Körper befindet. Nicht, als wüsste ich mit dieser Energie etwas anzufangen. Zur Schule gehe ich schließlich schon lange nicht mehr.

Ich kontrolliere mehrmals bevor ich das Haus verlasse, ob mein Computer auch wirklich heruntergefahren ist, ändere das Passwort ständig, obwohl Niemand da wäre, der es knacken könnte. Von meinem griesgrämigen Vermieter abgesehen, der hin und wieder vor meiner Wohnungstür auftaucht, um mich auf irgendein Zitat aus dem Mietvertrag hinzuweisen. Zum Beispiel, dass die Überweisung schon wieder fällig sei.

Morgens gehe ich dann meine übliche Strecke ab, die fünfundsiebzig Stufen hinunter bis ins Erdgeschoss, durch die schwere, abgewetzte Tür, durch das schmerzlich quietschende Gartentor und die Hauptstraße entlang in Richtung Kanal. Der Kanal liegt idyllisch außerhalb des Stadtbezirks - nicht weit von dem Hochhaus entfernt, in dem ich wohne - und ist umgeben von einem Waldstück, das man streng genommen nicht einmal so bezeichnen sollte, da so ziemlich die Hälfte der Bäume bereits abgeholzt wurden, wodurch man inzwischen durch den "Wald" hindurchblicken kann. Um diese frühe Uhrzeit sind selten schon Menschen unterwegs, was mir nur recht ist. Und wenn, dann haben sie es eilig. Laufen mechanisch wie willensschwache Roboter mit der Zeit mit. Eine Bedeutung anstrebend, die nicht existiert. Gesteuert von einem System, das sie verfluchen. Jeden Tag. Schwachköpfe.

Ich mag die Ruhe, die herrscht, wenn der Rest der Welt damit beschäftigt ist, der Rest der Welt zu sein und ich den steinigen Schotterweg entlang schlendern kann, während ich aus dem Blickwinkel heraus die rauschende Strömung fließen sehe. Sie fließt nicht mit mir. Sie fließt mir entgegen. Oder laufe dagegen an?

Wenn ich das Ende des Weges erreicht habe, bleibe ich vor einer massiven Unterführung stehen, deren Wände mit Graffiti beschmiert sind. Ein paar davon sind gar nicht mal so schlecht, sogar inspirierend und ansprechend. Für mich.

Manchmal lasse ich mich genau dort nieder und warte. Zu einer bestimmten Zeit tauchen hier jedes Mal ein paar Jugendliche auf, die Alkohol und Kippen mitbringen, die sie eigentlich noch gar nicht kaufen dürften. Vielleicht auch Drogen, keine Ahnung. Ich bleibe nie bis zum Ende.

Ziemlich nah dranWo Geschichten leben. Entdecke jetzt