Die blaue Rose

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„Rosen. Überall Rosen. Rote, gelbe, pinke, weiße und noch viele mehr. Ein Meer aus verschiedenen Rosen umgibt das kleine Steinhaus. Einer Sage nach lebt dort ein Mädchen. Sie soll wunderschön sein, wie Sirenen. Ihre Haare und Augen sollen jeden Tag eine andere Farbe haben. Ihre Haut sei so braun wie die Erde, in der ihre kostbaren Rosen wachsen. Auch ihr Gewand soll besonders sein, nicht aus Stoff, sondern aus Blütenblättern in allen Farben. Doch, ähnlich wie Sirenen, habe auch sie eine Schattenseite. Es heißt, sie töte jeden, der ihren Rosen zu nahe kommt oder ihnen gar Schaden zufügt. Dornen sollen ihre Zähne ersetzen und mit diesen reiße sie jedem Eindringling die Kehle auf oder sie erwürge die Fremden mit Ranken über dessen Kontrolle sie herrsche."

Die Sage dieses Mädchens faszinierte ihn. Auch an diese glaubte er ohne zu zögern. Sirenen hatten ihm seinen Vater gestohlen. Seine Mutter von einem Zwerg ermordet. Und selbst wenn er dies nicht als Beweis hätte, hätte er trotzdem daran geglaubt. Er war ein Waise. Legenden, Sagen und Märchen waren das einzige, woran er noch glaubte. Sie gaben ihm Hoffnung, denn in ihnen gab es Güte und Freude. Die Kälte und Bosheit in diesen Geschichten verliehen ihnen etwas Reales, da das Leben auch das Gute sowie das Böse enthielt. Diese Geschichten waren nun seine Realität. Manchmal mehr, manchmal weniger. Doch an diesem Tag war er wieder ganz erfüllt vom Glanz dieser Sage und beschloss kurzerhand dieses Mädchen zu suchen. Er wusste nicht, wo sich dieses Haus mit dem Rosenmeer befand, trotzdem war er guter Dinge. Er folgte dem Fluss hinab. Felder und Wälder zogen an ihm vorbei. Tag und Nacht vergingen. Unterwegs hielt er nach jeglichen Rosen Ausschau und jedes Mal, wenn er eine sah, grub er sie aus und trug sie in seinem Rucksack mit sich. In der Hoffnung das Mädchen würde sich vielleicht um ein paar neue Pflanzen freuen.

Drei Tage waren vergangen. Zehn Rosen hatte er gesammelt. Drei von ihnen fingen bereits an zu verwelken. Wenn er das Steinhaus nicht bald fand, musste er sie wieder eingraben. Doch dazu kam es nicht. Als die Sonne ein viertes Mal aufging, erblickte der Junge ein kleines Haus umgeben von vielen, vielen Rosen am Horizont. Hoffnungsvoll lief er mit zügigen Schritten darauf zu. Ehrfürchtig stand er vor dem Wall aus Rosen. Ein einzelnes weißes Röslein fiel ihm besonders auf. Sie war noch klein und wurde von der Pracht der anderen erdrückt. Sie hatte keine Chance an das Licht der Sonne zu gelangen. Trotz der Warnungen in der Sage fasste der Junge sich ein Herz. Sanft drückte er die anderen Blumen beiseite. Das Röslein hob die Blüte dem Licht entgegen und wuchs in wenigen Augenblicken prächtig heran. In seiner Faszination bemerkte er nicht wie jemand ihn beobachtete. Erst als er einen Schritt zurück trat, sah er das Mädchen. Ihre Haare und Augen waren weiß, wie die des Rösleins, dem er gerade geholfen hatte. Seltsam und vor allen Dingen unnatürlich wirkte dies in Anbetracht ihrer dunklen Haut. Ihr Kleid jedoch war noch prachtvoller als er es sich hätte vorstellen können. Dunkle, rote Blütenblätter schmeichelten, im Gegensatz zu ihren Haaren und Augen, ihrer Haut.
„Guten Morgen! Ich hoffe, ich habe dich nicht gestört", begrüßte der Junge lächelnd das Mädchen. Reglos sah sie ihn an. Den Jungen kümmerte ihre Emotionslosigkeit nicht, er fuhr unbeirrt fort. „Ich habe dir ein paar Rosen als Geschenk mitgebracht."
Er zog seinen Rucksack aus und öffnete ihn. Das Mädchen trat einen Schritt nach vorne. Neugierde blitzte in ihren Augen auf.
„Wahrscheinlich sind sie schon längst Teil deiner Sammlung, aber ich hoffe sie gefallen dir trotzdem. Ich befürchte nur, nicht alle haben die Reise wohlbehalten überstanden. Vielleicht kannst du sie ja noch retten?"
Erwartungsvoll sah er das geheimnisvolle Mädchen an. Zögernd reichte sie ihm ihre Hand. Als er sie ergriff, wanden sich Ranken um sein Handgelenk und banden ihn somit an das Mädchen. Eilig führte sie ihn durch die Unmenge an Rosen. Es schien als wichen sie ihnen aus um ihnen Platz zu machen. Mit einem Mal fiel dem Jungen etwas auf. Die Sage hatte in einer Sache Unrecht. Das Mädchen schien nicht die Kontrolle über die Pflanzen zu haben. Sie schienen ihr freiwillig zu helfen.
Am Steinhaus angekommen gruben die beiden Kinder schweigend zehn Löcher. In diese setzten sie gemeinsam die zehn Rosen ein. Auch sie wuchsen in wenigen Augenblicken zu prächtigen Rosen heran, selbst die, die bereits am verwelken gewesen waren. Begeistert beobachtete der Junge dieses Schauspiel. „Ich danke dir", sagte das Mädchen plötzlich leise. Ihre Stimme war hell und klar. Er drehte sich zu ihr um, lächelnd. Sie erwiderte es und entblößte dabei ihre Zähne. Sie waren tatsächlich Dornen, doch das kümmerte den Jungen nicht. Er hatte keine Angst vor dem Tod und noch weniger Angst vor ihr, denn weder hatte er etwas zu verlieren, noch hatte er ihr einen Grund gegeben, ihn anzugreifen. Dann ergriff sie erneut seine Hand und führte ihn in das Haus. Überall standen Blumentöpfe und Erde war auf dem Boden verteilt. Inmitten des Hauses stand ein Wasserbecken. Über diesem Becken befand sich eine Glasscheibe im Dach, sodass die Sonnenstrahlen die Pflanze erreichen konnte, die sich in diesem Becken befand. Nach näherem Betrachten erkannte der Junge, das auch diese eine Rose war, eine ganz besondere sogar.
Sie war blau.
Er hatte noch nie zuvor eine blaue Rose gesehen.
„Sie ist mein größter Stolz und gleichzeitig mein größtes Geheimnis", flüsterte das Mädchen. Gespannt hörte der Junge ihr zu. Er wollte erfahren, was es mit dieser Rose auf sich hatte.
„Sie enthält das Leben aller Rosen der Welt. Zerstörst du sie, so wird jede Rose augenblicklich verwelken. Deshalb..", sie stockte. Traurig sah sie auf ihre Hände hinab. Ermutigend legte der Junge seine Hand auf ihre. Eine Träne tropfte auf seine Hand.
„Deshalb darf niemand hierher. Die Menschen sind eigennützige Wesen. Würden sie diese Rose entdecken, so würden sie im ganzen Land von ihr berichten. Sie würden in Scharen kommen um sie zu sehen."
Verwirrt sah der Junge sie an.
„Wäre das denn so schlimm? Findest du nicht, wir sollten diese einzigartige Schönheit mit allen Menschen teilen?"
Sie lächelte über seine kindliche Naivität. Sie sah zwar aus wie ein Kind, doch in Wahrheit hatte sie schon Jahrhunderte gelebt. Sie kannte die Menschen besser als jeder andere.
„Die meisten Menschen würden sicherlich nur ihre Schönheit bewundern wollen, aber es würde auch Menschen geben, die ihr Schaden wollen und das kann ich nicht zu lassen."
Ihre Stimme klang belegt. „Das letzte Mal, als ich einen Menschen an sie heran ließ, hatte er sie stehlen wollen. Seinetwegen wurde ich zu dem, was ich nun bin."
Sie holte tief Luft.
„Ein Monster."
Der Junge schüttelte den Kopf.
„Eine Hüterin"
Erneut lächelte sie, diesmal dankbar über seine tröstenden Worte.
„Aber warum darf ich dann deinen Garten betreten? Warum darf ich deinen größten Schatz sehen?", fragte der Junge nachdenklich. Schließlich wollte sie doch eigentlich keine Menschen mehr an diese Rose lassen.
„Ganz einfach", antwortete sie. „Du lebst in deiner eigenen Welt. Du hast dem Röslein geholfen, als wäre sie ein Mensch. Du hast so viel Güte in dir. Du bist ein Träumer, der Dinge nicht sehen muss um zu wissen, dass sie existieren." Leise fügte sie hinzu: „Außerdem bin ich einsam."
Ohne zu zögern, zog der Junge das Mädchen in eine Umarmung.
„Das war ich auch."
Langsam löste er sich von ihr und sah ihr direkt in ihre weißen, reinen und vor Weisheit strotzenden Augen.
„Bis jetzt."

Von da an lebten die beiden gemeinsam in diesem wundersamen Garten. Es dauerte nicht lange, da war auch der Junge zu einem Hüter geworden. Gemeinsam kümmerten sie sich um die Rosen und beschützten sie.
Und so endet die Geschichte von zwei einsamen Kindern, die ihr gemeinsames Glück in ihrer eigenen Welt gefunden haben.

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