Weiße Wände ohne Fenster und Türen umgaben ihn. Es war als hätte man ihn eingemauert. Abgeschnitten von der Menschheit. Gefangen. Ja, das war das richtige Wort. Dieser Ort war sein persönliches Gefängnis als Strafe für das, was er getan hatte. Das schlimme war jedoch, dass er sich nicht erinnern konnte, WAS er getan hatte. Egal, wie sehr er auch versuchte sich zu erinnern. Er konnte es nicht und das machte ihn wahnsinnig. Wie sollte er seine Taten bereuen, wenn er sich nicht erinnern konnte? Wie konnte er dann auf Erlösung hoffen? Oder war seine Tat so schrecklich, dass ihm die Erlösung verwehrt wurde? Er wusste es nicht. Er wusste gar nichts. Er wusste noch nicht einmal wie er hergekommen war oder ob dies die Realität oder ein Albtraum war. Sein Kopf war so leer wie dieser Raum. Mit jeder Minute die verstrich – ach, was dachte er da bloß. Er hatte längst sein Zeitgefühl verloren, falls es an diesem Ort überhaupt Zeit gab. Es fühlte sich nämlich nicht so an. Er fühlte sich an als befände er sich in einem Schwebezustand, in einer anderen Welt oder gar zwischen zwei verschiedenen Welten. Doch all diese Überlegungen über seinen mysteriösen Aufenthalt an diesem mysteriösen Ort brachten ihn auch nicht weiter.
Plötzlich tropfte etwas auf seinen Kopf. Er fuhr sich durch die Haare und sah seine Hand an. Sie war rot.
War das etwa... Blut?
Wie Regen fielen Blutstropfen von der Decke. Er sah nach oben. Die Decke hatte sich rot gefärbt und nun breitete es sich auch auf die Wände ringsherum aus. Wie Wasser floss es die Wände hinunter und bald bildeten sich Lachen auf dem Boden. Umzingelt von einem Meer aus Blut stand er auf einem letzten Fleck weiß.
Sein Schrei erstickte als er vom Blut erfasst wurde und in die Tiefe gezogen wurde.Jetzt war alles schwarz, doch er war nicht mehr alleine. Ein Junge stand vor ihm. Sein schwarzes Haar hob sich stark von seiner totenblassen Haut ab. Aus blutunterlaufenen Augen an sah er ihn an. Der Junge hob eine Hand an sein Gesicht. Sie war blutüberströmt und mit alten Narben, sowie neuen Schnitten übersäht.
Die Erkenntnis traf ihn wie ein Blitz. Er war alleine. Dieser Junge war bloß sein Spiegelbild. Dieser Junge... war ER.Gedämpfte Schritte, Stimmen und das Piepen einer Maschine waren die ersten Geräusche, die er vernahm als er aufwachte. Weiße Wände waren das erste, was er sah. Panik stieg in ihm auf. War er wieder an diesem schrecklichen Ort gefangen? Nein, das konnte nicht sein, schließlich schienen hier Menschen zu sein. Dann blieb nur noch die Frage: Wo war er dann?
„Lucas. Können Sie mich hören?", wollte eine tiefe Männerstimme wissen. Der Junge nickte. Er blinzelte ein paar Mal um besser sehen zu können, doch alles blieb verschwommen. Aus zusammengekniffenen Augen versuchte er auszumachen, wo die Männerstimme hergekommen war.
„Gut. Drehen Sie ihren Kopf bitte zu mir", forderte die Stimme. Endlich erkannte ich einen großen Mann mit einem weißen Kittel zu meiner Rechten. Ein weißer Kittel? War er im Krankenhaus? Der Mann leuchtete ihm mit einer Taschenlampe in die Augen.
„Die Reaktion Ihrer Pupillen ist etwas verzögert, dies wird sich jedoch bald wieder geben."
Er war definitiv im Krankenhaus, aber warum?
„Sie hatten wirklich Glück, dass man Sie so schnell gefunden hat. Wir hätten Sie beinahe verloren."
Beinahe verloren? Plötzlich war alles wieder da. Er erinnerte sich. Schmerzhafte Erinnerungen, unerträgliche Bilder schoben sich vor sein inneres Auge. Er schloss die Augen für einen Moment. Er sammelte jede seiner schrecklichen Erlebnisse und schloss sie weg. Es war keine langfristige Lösung, doch vorerst musste sie reichen. Er wollte sich jetzt erstmal auf das Kommende konzentrieren.
„Wann kann ich wieder raus?", krächzte der Junge. Er war sich nicht sicher, aber er glaubte ein leichtes Lächeln auf dem Gesicht des Arztes zu sehen.
„Das wird noch eine Weile dauern. Sie haben viel durchgemacht." Der Arzt ging zur Tür und verabschiedete sich mit den Worten: „Ruhen Sie sich noch etwas aus."
Der Junge lächelte. Sein erstes Lächeln seit Monaten, wenn nicht sogar Jahren. Es erfüllte seinen ganzen Körper, ließ sogar seine Augen erstrahlen. Es kribbelte in seinen Fingern und Füßen. Am liebsten wäre er aufgesprungen und losgerannt. Er wollte die ganze Welt in all ihren Farben sehen. Doch auch wenn das noch warten musste, erfüllte Hoffnung und Leben seinen Geist.Er war ganz am Boden gewesen, hatte gesehen, gespürt welches Leid einen dort erwartete. Die Zeit dieses Leidens war nun vorbei. Nie wieder wollte er etwas dergleichen erleben.
Der Junge riss sich von seinen Ketten los, ließ sein Gefängnis hinter sich.
Er war nicht länger ein Gefangener seiner selbst.
Er war frei und lebte.
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Kurzgeschichten
AcakMeine Kurzgeschichtensammlung auf einem Blick: Die blaue Rose Sterntaler - die etwas andere Version Du bist niemals allein. Gefangen. Regen die Lebenden und die Beobachter