Dunkel. Nein. Hell. Oder?
Wo war ich?Nebel. Blätter. Bäume.
Ein Wald?Schatten. Bewegung.
War hier jemand?Eine Gestalt. Ein Gesicht. Blaue Augen.
Ein Mensch?
Eine Stimme. Tief. Dunkel.Ein Mann?
Eine Hand.
Wollte er mir helfen? Oder mir etwas antun?
Angst. Misstrauen.
Ich wusste nicht, wo ich war, wie ich hierhergekommen war oder wer dieser Mann war.
Ungewissheit. Panik.Die Welt erschien mir verschwommen und ich konnte kaum klar sehen. Viel hatte ich anscheinend nicht zu verlieren...
Ich ergriff die Hand des Mannes. Plötzlich konnte ich meine Umgebung klar und deutlich erkennen. Ich war nicht in einem Wald sondern im Stadtpark. Es war Herbst und es regnete. Ich konnte keine Vögel oder anderen Tiere hören. Es war komplett still. Nur der Regen, der leise auf die letzten bunten Blätter an den Bäumen prasselte, war zu hören. Der Mann zog mich auf die Beine. Ich schwankte, aber der Fremde hielt mich fest. Als ich endlich alleine stehen konnte, trat ich einen Schritt zurück um den fremden Mann besser betrachten zu können. Er war einen Kopf größer als ich. Er schien auch zwei oder drei Jahre älter zu sein. Also, zwanzig oder dreiundzwanzig. Er war schlank und hatte kurze braune Haare. Sein Gesicht hatte harte Züge, aber seine blauen Augen widersprachen dieser Erscheinung. Seine Augen... Irgendwie kamen sie mir bekannt vor.
„Du bist eine Beobachterin, nicht wahr?", fragte der Fremde mich auf einmal. Ich wich zurück.Konnte das sein...?
„Keine Angst. Ich werde dir nichts antun", nach einer kurzen Pause fuhr er fort, „Ich bin hier, weil ich dir helfen will." Verwirrt sah ich ihn an.
„Helfen?", fragte ich. Wenn er mir sagen konnte, warum mein Kopf sich anfühlte, als wären dort nur Wattebäusche drin und warum ich mich an nichts erinnerte, dann konnte er mir tatsächlich helfen. Ich glaubte aber nicht, dass er das konnte.
„Ja, helfen. Ich will dir helfen... zu leben", sagte er leise.Nein, das konnte nicht sein, oder...?
„Zu leben? Ich habe nicht mal das Gefühl, dass ich überhaupt noch am Leben bin! Also, wie willst DU mir helfen ‚zu leben'?!", fragte ich ihn mit zittriger Stimme. Wenn er sich hier einen Scherz mit mir erlaubte, dann konnte er was erleben!
„Du bist am Leben, aber du lebst nicht", sagte er schmunzelnd. Ich sah ihn schockiert und verärgert an. Er machte Witze, während ich hier total durchnässt und ohne Erinnerung herum stand! Der junge Mann bemerkte meinen Blick und seine Miene wurde wieder ernst.
„Wie es scheint, verstehst du nicht, was ich damit sagen will. Ich werde es dir erklären. In dieser Welt gibt es die Lebenden und die Beobachter. Du warst schon immer eine Beobachterin", erklärte er mir. Ich schüttelte den Kopf.
Nein. Nein. Nein. Hör auf. Lass mich in Ruhe.Er fuhr jedoch unbeirrt fort:
„Es ist endlich an der Zeit, dass du lebst, zu einer Lebenden wirst." Ich suchte in seiner Stimme, seinem Blick und seinem Verhalten ein Anzeichen dafür, dass er mich verarschte. Doch ich konnte nichts erkennen. Er schien es ernst zu meinen. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Vielleicht sollte ich einfach gehen? Ja, das war wohl das Beste. Ich wandte mich um.Es ist besser wenn ich nicht zurückkehre.
„Geh nicht, Veronica", sagte er leise. Erschrocken sah ich ihn an. „Wo...Woher kennst du meinen Namen?", fragte ich. Er lächelte leicht. „Als ich dich das erste Mal sah, hattest du einen schwarzen Rock und ein Band-Shirt an. Du sahst so verloren und anders aus zwischen den ganzen Menschen. Du warst wie ein schwarzer Tintenfleck inmitten einer bunten Blumenwiese. Ich war schon so lange gelangweilt von den Menschen um mich herum und du warst die Erste, die mir sofort ins Auge sprang. Ich bin zu dir hingegangen und habe dich nach deinem Namen gefragt. Erinnerst du dich?" Ja, ich erinnerte mich. Ich saß im Stadtpark unter einem Baum. Viele Menschen waren dort, auch die von meiner alten Schule konnte ich wiedererkennen. Ein fremder Junge stach mir damals besonders ins Auge. Wie hieß er nochmal? Er hieß...
„Nicolas?", hauchte ich ungläubig. Erinnerungen von dem Jungen, der mit allen befreundet war, die ich kannte, erschienen vor meinem inneren Auge. Er nickte erleichtert, als hätte ihm jemand eine schwere Last von den Schultern genommen. „Du warst so abweisend, auch wenn ich immer auf dich zu gehen wollte. Du hast jeden Tag unter diesem Baum gesessen und hast die vorbeigehenden Menschen beobachtet. Aber immer wenn ich versucht hatte mit dir zu reden, bist du mir ausgewichen", erzählte er enttäuscht weiter. Ich biss mir auf die Lippe und sah zu Boden. Ich wusste nicht, dass er sich für mich interessierte. Ich dachte, er hätte nur Mitleid mit dem Mädchen, das Tag für Tag unter einem alten Baum im Stadtpark saß, weil sie nicht wusste, was sie mit ihrem Leben anfangen sollte. Ich dachte, dass mich sowieso niemand brauchte, besonders niemand wie er. Als ich ihn wieder ansah, war ein trauriger Ausdruck in seine Augen getreten. „Irgendwann habe ich es aufgegeben. Es tat weh, weil ich dir schon damals helfen wollte, aber ich akzeptierte es. Anscheinend gab es jedoch Menschen, die es nicht akzeptieren konnten." Er seufzte.
Verschwinde. Du warst bisher doch auch verschwunden! Also geh! Du kannst nichts tun.
Ich schüttelte den Kopf, als ob das die Erinnerungen vertreiben würde, die in mir hochkamen. Erinnerungen von Menschen, die ich nicht einmal kannte, die trotzdem schlecht über mich sprachen und mir Sachen an den Kopf warfen. Erinnerungen von denen ich gehofft hatte, sie ausgelöscht zu haben. Die Welt verschwamm wieder vor meinen Augen. Ich konnte spüren, wie etwas an mir zerrte. Ich verlor den Boden unter meinen Füßen. Starke Arme fingen mich auf, bevor ich fallen konnte. Ich sah nichts mehr. Alles war dunkel und hell zugleich. Stimmengewirr umgab mich. Woher kamen auf einmal diese Menschen? Da war eine wütende Männerstimme und eine besorgt klingende, welche einer Frau zu gehören schien. Ich konnte auch Nicolas' verzweifelte Stimme hören. Die Stimmen stritten kurz, dann wurde es still, bis Nicolas' gehetzte Stimme über mir erklang: „Ich weiß noch, wie es an einem Tag besonders schlimm war. Eine Gruppe von jungen Frauen und Männern, die dich anscheinend kannten, traten auf dich ein und schrien dich an, wie wertlos du seist. Ich weiß nicht, warum sie das getan haben, aber das ist mir nach wie vor egal. Es war klar, dass ich dir helfen musste. Ich drohte deinen Angreifern die Polizei zu rufen, aber sie nahmen mir mein Handy ab und zerstörten es. Glücklicherweise gingen sie danach. Ich bin sofort zu dir gerannt. Kannst du dich daran erinnern?" Daran konnte ich mich ebenfalls erinnern, wenn auch nur schwer. Es war nicht einfach sich in diesem seltsamen Zustand zu konzentrieren. Doch ich nahm all meine letzte Kraft zusammen und murmelte:
„Es war Herbst und es hatte geregnet. Wie heute." Ich seufzte bei dieser Erinnerung. Sie war alles andere als erfreulich und ich spürte, wie ich immer mehr in diesen schwerelosen Zustand zurückgezogen wurde. Ich konnte nichts dagegen tun. Selbst wenn ich etwas dagegen tun konnte, warum sollte ich? Es gab keinen Grund zu bleiben. Ich wollte mich nicht an eine schlimmer Vergangenheit erinnern.
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Kurzgeschichten
RastgeleMeine Kurzgeschichtensammlung auf einem Blick: Die blaue Rose Sterntaler - die etwas andere Version Du bist niemals allein. Gefangen. Regen die Lebenden und die Beobachter