Fühlen

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Taby hatte mit gesenktem Kopf den Raum verlassen, und Philip lehnte sich erschöpft im Daunenkissen zurück.

Er hatte sie nicht anschreien wollen, aber, es war nicht zu leugnen: Er fühlte sich auf eine merkwürdige Art besser. Ruhiger. Klarer.
Das Gefühl, wenn man nach stundenlangem Rumsitzen in der staubigen Luft rausgeht, und die Kälte der Nacht einsaugt.

Aber trotzdem fühlte er sich dreckig.
Der Sand der letzten Tage klebte an seiner ausgetrockneten Haut, die Finger im lilablau der Brombeeren gehalten, die Haare verfilzt und hart.

Langsam richtete sich der Junge auf, bis er mit beiden seiner rauen, schmalen Füße auf den alten Dielen stand.
Die schützende Wärme der Decke hatte ihn losgelassen. Oder er sie.

Vorsichtig setzte Philip einen Fuß vor den anderen und lief, darauf bedacht kein Geräusch zu verursachen, Richtung Tür.
Hinter der Tür lag ein kurzer Flur, kaum beleuchtet, aber in altrosa tapeziert.
Das spärliche Licht zeichnete vier Türen ab, deren Räume mit dunkelblauen, friesischen Metallplaketten in altdeutscher Schrift gekennzeichnet waren- das Bad war Philip gleich gegenüber.
Auf Zehenspitzen schlich dieser quer durch den Flur und verschloss, im Badezimmer angekommen, die Tür hinter sich.
Mit schmalen Augen musterte das verdreckte Bündel die Grünen Kacheln, das cremefarbene Waschbecken und die milchige Glasscheibe, bevor es sich instinktiv auszog und splitterfasernackt die Duschwanne betrat.
Eine Gänsehaut überzog Philips Körper und hunderte feiner Nackenhärchen standen ihm zu Berge, seine Sinne waren wieder aufgescheucht.
Ein Spitzer Schrei entfuhr ihm, als das kühle Nass plötzlich auf ihn herunterprasselte, doch nach ein paar schnellen Handgriffen wurde das Wasser immer wärmer.
Philip spürte, wie die Tropfen in seinen Nacken fielen, langsam über die Wirbelsäule kullerten und seine Gänsehaut wegspülten, wie der Tanz der Regendusche seine Schultern umspielte und die Verspannungen löste, wie seine Haare die Flüssigkeit aufsaugten und schwer und nass an seiner Kopfhaut kleben blieben, wie das Wasser seine Sinne umspielte, in die Ohren lief, bis er nur noch ein gleichmäßiges Rauschen Vernehmen konnte. Dann sah er wie der Sand und der Schmutz, die Steinchen und der salzige Film gen Abfluss schwammen - und darin verschwanden.
Sachte hob Philip seinen Arm und umschlang seine abgezeichneten Rippen, schloss die Augen und legte seine Hände an seine Wangenknochen an, fuhr sie nach und strich dann mit einer Hand durch seine nassen Haare.
Zart streichelte er mit seinen feuchten Händen über die blassen Oberarme.
Er hob die Unterlippe an und ließ sie auf der oberen weilen, dann öffnete er den Mund leicht und fing mit seiner Zunge einen dicken Wassertropfen einer der oberen Haarsträhnen auf, knetete seine Schultern und drückte leicht auf seine Lider.

Er weinte.
Man konnte es zwar auch für süßes Duschwasser halten, aber sein verkrampfter Oberkörper und das leise schluchzen verrieten: Es waren salzige Tränen.
Es war nun schon das zweite Mal in den letzten Paar Tagen, und doch hatte er das Gefühl, sein innerer Ozean wäre unerschöpflich.

Er weinte, ja, denn so, so hatte Annie das immer gemacht.

Ihn gestreichelt.
Ihn sich selbst fühlen lassen.
Ihn sie selbst fühlen lassen.
Ihn berührt.

Wann war das letzte Mal dass mich jemand berührt hat?

Er wollte sie spüren, sie fühlen, aber sie war wie der Sand im Abfluss spurlos abgewaschen und verschwunden.

Der durchnässte Junge wollte am liebsten hinterherfließen, sie wieder auffangen - oder wenigstens mitkommen.

Doch Philip wurde sich ein weiteres Mal bitter bewusst, dass es zu spät war. Er hätte den Sand früher auffangen müssen, oder sich gar nicht erst reinlegen.

Ich wollte dich festhalten Annie.
Aber du, du bist durch meine Finger gerieselt.
Ich will dich halten Annie, jetzt- ich will fühlen dass du da bist.
War ich nicht stark genug, Annie?

Lebenswert - der letzte Punkt | #wattys2015Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt