Prolog

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Das Mädchen schaute aus dem Fenster: Es war weiß.
Keine große Überraschung.
Es war immer weiß draußen. Seufzend drehte sie sich um und schlenderte durch den kleinen Raum zum alten Holzbett, welches das einzige Möbelstück darstellte und legte sich hinein. Sie starrte geradeaus an die Decke.
Weiß.
Weiß mit Schlieren.
Weiß mit Schlieren und Flecken.
Alles in ihrem Zimmer war langweilig, doch dies war ihre Strafe. Hätte die Mutter sie neulich nicht beim Singen in der Küche erwischt würde sie hier nicht festsitzen.
Sie betrachtete das Holz des Bettes. Nicht einmal dieses Hatte eine Farbe die über einen Schwarz, Braun, Grau oder Weißton hinaus ging.

Das Mädchen liebte Kunst. Es liebte die Anordnung der Dinge, so ungezwungen und durcheinander. Es liebte die Farben. Oh ja, die Farben!
Erst ein einziges Mal in ihrem Leben hatte es Kunst gesehen. Ihr Bruder hatte es ihr gezeigt: Ein Bild eines Waldes, so schön.Er schenkte ihr das Bild, als er sah, wie begeistert sie davon war, doch musste sie ihm versprechen es niemandem zu sagen. Sie versprach es ihm. In dem Moment, indem sie das Bild mit ihren Händen berührte wurde es ihr aus der Hand gerissen. Männer packten ihren Bruder und zerrten ihm weg. Die Eltern standen im Türrahmen und sahen zu während sie den Bruder rief, er solle auf sie warten, er solle sie nicht alleine lassen.

Doch sie sah ihn nie mehr danach. Er hatte sie gerufen, er hatte ihr einen Namen gegeben. Gabriella. Jedesmal spürte sie eine Wärme von diesem Namen ausgehen. Diesen, den nur er benutzte.
Sie hatte ihn vermisst. Und wie sie das hatte. Doch als sie die Eltern fragte, ob ihr Bruder bald wieder zu ihr zurückkommen würde schlug sie der Vater und schrie sie an. Er sagte ihr, dass sie nie einen Bruder gehabt hätte und sie nie wieder darüber sprechen solle.

Danach wurde sie wieder eingesperrt. Sie wusste nicht wie lange es war aber die ganze Zeit lag sie in ihrem Bett und starrte die Decke über ihr an, so wie sie es jetzt auch tat.
Vor kurzem jedoch stand sie wieder mal am Fenster und betrachtete die Weiße Landschaft außerhalb. Auf einmal war ein farbiger Fleck vor ihren Augen aufgetaucht. Er kam immer näher und sie sah, dass es ein Geschöpf von reiner Anmut und Schönheit war und sein Gefieder von einer schillernden, prachtvollen Farbe. Dank ihres Bruders wusste sie den Namen: Es war Rot. Das Geschöpf kam bis dicht vor die Scheibe und blickte sie mit schwarzen, glühenden Augen an. Dann öffnete es sein spitzes Maul und sang. Es war der erste Gesang, den das Mädchen jemals gehört hatte. Es war eine Tonfolge, die es immer wieder wiederholte. Viel zu schnell verschwand das Geschöpf wieder und Sie blickte wieder auf eine Weiße Fläche.

Später, als man sie wieder rauslies konnte sie die Melodie nicht mehr vergessen und als sie mit sich selbst alleine war summte sie sie. Es klang wunderschön und das Mädchen traute sich mehr. Es sang wie es das rote Ding getan hatte. Durch den Gesang fühlte es sich frei. Frei wie das Geschöpf an ihrem Fenster, als könne sie überall hin. Niemand schrieb ihr vor was sie machen dürfte und was nicht. Doch diese Freiheit nahm ein jähes Ende als die Mutter sie am Arm packte und in ihr zimmer einsperrte. Dieses eine Mal verspürte das Mädchen mehr als nur die übliche Traurigkeit und Scham, die sie überkam, wenn sie eingesperrt wurde. Sie spürte ein Gefühl, dass ihr befahl laut zu schreien und zu brüllen, zu toben und auf die Matratze ihres Bettes einzuschlagen. Sie war wütend. Man hatte sie eines tollen, wunderschönen Gefühls beraubt, dass sie am liebsten immer haben würde und ihre ein Gefühl geschenkt, welches sie hasste. Nachdem sie sich beruhigt hatte ging sie wieder ans Fenster. Sie wollte das rote Geschöpf wieder sehen. Sie wartete. Und wartete. Ihre Augen flogen über die weißen Ebenen, die kein Ende nahmen. Doch da war kein Rot. Nur weiß.
Und nun lag sie wieder im Bett und starrte die Wand an. Und wieder ging ihr die Melodie nicht aus dem Kopf. Sie fing wieder an zu singen: Laut, stark und klar. Sie sang bis ihre Stimme versagte. Dann weinte sie, bis sie schließlich einschlief.

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