3.Kapitel

23 1 0
                                    

Alle waren angespannt. Doch sie wusste nicht wieso. Sie verhielten sich merkwürdig, waren mit ihren Gedanken weit weg. Noch nie hatte das Mädchen so etwas erlebt. Ihre Eltern hatten ihr beigebracht die kleinsten Veränderungen von Stimmungen zu spüren und sie zum eigenen Vorteil zu nutzen. Und das tat sie.

Nun saß sie mit ihren Eltern am Esstisch und blickte auf das Glas mit der weißen Flüssigkeit. Sie wusste, dass sie es nicht anrühren durfte, wenn sie alles spüren wollte. Alles was um sie herum geschah. Sie wollte kein abgestumpftes Ding sein, eine Marionette in den Händen ihrer Eltern. Aber man würde es bemerken, wenn sie ihr Glas nicht trank. Also hieß es die Eltern abzulenken, damit sie es nicht taten. Und es klappte. Immer.

Als das Mahl fertig war, räumte sie den Tisch ab und schüttete ihr Glas unauffällig den Abfluss hinunter. Danach ging sie nach oben.

Sie betrat ihr Zimmer und grinste. Auf ihrem Bett schlief Yuro tief und fest. Ganz leise und lautlos glitten ihre nackten Füße über den Boden. Sie setzte sich neben ihn und berührte die kleinen, feuerroten Federn am Nacken des Vogels und streichelte ihn behutsam. Er hob seinen Kopf und blickte sie mit seinen riesigen, schwarzen Augen an und stellte seine Nackenhaare auf. Andere Leute würden sich fürchten, wenn ein Tier, dass doppelt so groß war wie sie selbst und ein Federkleid von riesigen Roten Federn hatte, sie auf diese Art angucken würde. Doch das Mädchen fürchtete sich nicht. Sie kannte Yuro und sie wusste was los war. Seit sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte war sie auf eine Art und Weise mit ihm verbunden, wie sie es noch nie mit einem anderen Lebewesen war. Yuro erinnerte sie daran, wieso es überhaupt wert war zu leben. Er hatte ihr die Augen geöffnet. Ohne ihn wäre sie genauso geworden wie ihre Eltern.

Langsam legte sie die Hände an die Schläfen des Vogels. Sofort überströmten sie die geliebten Bilder. Yuro, wie er über den Wolken flog und dann wieder unter die dicke weiße Decke tauchte. Die gläsernen Türme ihres Volkes überzogen die makellose, farblose Landschaft. Dann überquerten sie die Mauer und es überströmten sie Farben: rot, grün, gelb, kobaltblau, violett. Aber sie spürte auch das, was der Vogel gespürt hatte: Freiheit. Alles wonach sie sich immer gesehnt hatte.
Sie war mit dabei, als er seine Beute fang. Braune Wildmäuse und Rote Eichhörnchen, er schlang sie runter und sie spürt das befriedigende Gefühl der Sättigung. Jedesmal erlebte sie so ziemlich das Gleiche, doch dieses mal kam etwas neues dazu. Yuro flog durch den bunten Wald, der an die Mauer grenzte, wie er es immer tat. Doch dann sah sie eine Bewegung. Unscharf sah sie etwas Braunes, dass sich bewegte. Sie blickte näher hin. Das konnte nicht sein.

Er war einer wie sie, aber auch wieder nicht. Er lief anmutig und lautlos auf zwei Beinen, war muskulös und hatte Nase, Mund und Augen. Doch das waren schon die einziegen Ähnlichkeiten, die er mit ihrem Volk aufwies. Er hatte dunkle Haut und seine Haare waren golden. Die Nase war leicht schief der Mund zu einem Lächeln verzogen. Anscheinend dachte er gerade über etwas Amüsantes nach. Yuro duckte sich. Er hatte direkt in ihre Richtung geblickt. Sie musterte ihn wieder und dachte darüber nach, was ihn so anders machte als sie. Dann sah sie den Grund: Es waren seine Augen. Sie waren in einem stechenden Grün. Wie wunderschön sie waren. Wenn sie doch jeden Morgen in grüne Augen blicken könnte anstatt die leeren, weißen und kalten Augen ihrer Ausbilder. Was würde sie selbst dafür geben eine Farbe an ihr zu haben.

Er ging weiter. Sie folgten ihm. Er ging bis kurz vor die Mauer, betrachtete sie für eine Weile, dann öffnete er eine geheime Klappe im Boden, im Schutze eines großen Farns. Ohne zu zögern sprang er durch die Klappe. Yuro ging zum Loch und blickte für eine kurzen Moment hinein und die schwarze Leere des Loches umfing sie und drehte sich, bis sie wieder in die Augen des roten Vogels sah.

Nun wusste sie wieso alle so angespannt waren. Er war hier.

Aeon - BreakoutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt