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,,Olivia?"

Ich wusste doch, dass es eine schlechte Idee war, Olivia in ein Café zu schleppen, wo Leute nicht nur schnell einen Kaffee kaufen.

,,Was willst du, Zoe?"

,,Geht es dir gut?"

Ich rolle mit meinen Augen. Es tut ja nahezu weh, wenn die Leute solch Mitgefühl für uns zeigen. Ich wende meinen Blick von Olivia und dieser Zoe ab und hoffe, dass Olivia das alleine schafft, sonst werde ich eingreifen müssen.

,,Verschwinde. Ich habe keine Lust auf sowas."

Eine kurze Stille tritt ein und vermutlich ist Zoe total schockiert.

,,Olivia, komm schon. Du kannst mir alles erzählen."

,,Erzähl mir keinen Blödsinn und verpiss dich. Du hast mir schon so oft dein Mitgefühl und Beileid mitgeteilt, dass es fast wie Herpes ist. Ich kriege dich nie ganz weg."

Ich halte mein Lachen zurück und fahre mir durch die Haare. Olivia ähnelt Lewis so sehr, sie erinnert mich so stark an ihn. Ich denke, Zoe hat es endlich kapiert und zischt ab, aber ich höre sie seufzen und das ist nie ein gutes Zeichen. Ich wäre jetzt echt gerne in meinem Bett und würde über alles mögliche nachdenken, bevor ich einen Anruf von dem betrunkenen Andrew kriege und ihn mit Vera gemeinsam abhole und Olivia auch noch mitnehme und wir etwas rumfahren, bevor wir über alte Zeiten reden und Bier trinken und rauchen und wir Lewis vergessen und Olivia nicht mehr weint und ich mich übergeben muss und wir lachen. Ich wäre gerne mit Lewis in einer Bar und er würde mir über seine neuen Bekanntschaften erzählen und welche den größeren Busen hat und welche wieder total durchgeknallt war und dass ich wieder eine neue Freundin haben sollte und Olivia uns dann abholt, weil wir so voll sind. Ich wäre auch so verdammt gerne bei Olivia in der Wohnung, würde sie umarmen und wir würden Lewis' Notizen verbrennen und uns im Arm halten und weinen und lachen und letztendlich auf dem Boden sitzen und grinsend den Kopf schütteln. Das will ich. Ich will noch einmal diese Momente erleben, sie festhalten und schätzen.

Zoe nimmt sich einen Stuhl und setzt sich zu uns, was ich nicht bemerkt habe, da ich zu sehr in meine Gedanken vertieft war. Ich halte Zoe nicht für eine missbillige Frau, die ich nicht neben mir haben will, aber irgendwie hat sie es mit ihrem Mitleid übertrieben. Zum ersten Mal sehe ich die Brünette neben mir an und irgendwie sieht sie so niedlich aus, dass ich Sympathie für sie empfinde.

,,Ist das dein Freund, Olivia?", fragt Zoe neugierig und scheint Olivias Abweisungen zu ignorieren. Anscheinend kennt Zoe sie schon länger und weiß, wie sie mit ihr umgehen muss.

,,Wir sind nicht zusammen", zögert Olivia und spricht dann weiter. ,,Wir sind Freunde."

Ich weiß, dass es ihr schwer fällt, zu sagen, dass ich nun ihr bester Freund bin und Lewis' Platz nahezu ersetzen scheine, aber das stimmt nicht. Ich würde es niemals wagen, seinen Platz ersetzen zu wollen. Das könnte ich nicht, das würde mir ja selbst das Herz brechen.

,,Oh, okay", nickt Zoe leicht und hat solch getrübte Augen. Sie starrt in die Ferne, aber fängt sich schnell wieder, als würde sie irgendwas verdrängen. Ich versuche möglichst ruhig und gelangweilt zu schauen. Zoe ist nicht hässlich, aber nicht mein Typ. Sie hat eher dunkle Haut und braune Augen, stammt vermutlich aus einem anderen Land und wirkt auch eher wie eine neugierige Person. Ich mag keine neugierigen Leute. Eigentlich mochten wir drei, Olivia, Lewis und ich, keine neugierigen Leute. Wir hatten immer gerne unsere kleinen Geheimnisse untereinander und nicht jeder musste alles über uns wissen. Niemand wusste von Lewis' kranker Mutter, die ihm die Schuld für den Tod seines Vater gab oder wusste von Olivias ehemaliger Kokain-Sucht oder von meinem unergründlichen Hass gegenüber meiner Mutter und der ehemaligen Karriere als Dieb. Ich war einfach gut im Stehlen und Schlösser aufknacken, aber dem habe ich schon lange abgeschworen oder ich habe es einfach vergessen. Olivia und ich hatten beide einen schlechten Einfluss und irgendwie verbinden uns diese Arschlöcher, die heutzutage vermutlich im Knast sitzen oder arbeitslos sind.

,,Ich habe dich lange nicht mehr gesehen, Olivia. Es gehen die verrücktesten Gerüchte über dich rum."

Verdammte Scheiße. Meine Sympathie für Zoe ist verschwunden. Ich würde ihr gerne den Hals umdrehen und so starre ich sie vermutlich auch an. Olivia bemerkt natürlich meinen Blick, nachdem sie selbst erstmal Zoe angestarrt hat und sie lächelt mir kurz zu. Ich weiß, dass sie weiß, dass ich es nur gut meine und irgendwie beruhigt mich ihr Lächeln. Sie nimmt es mir nicht übel, dass ich ihr nichts davon gesagt habe.

,,Mir hätte klar sein sollen, dass diese Idioten so einen bullshit erzählen", meint Olivia letztendlich und rollt mit ihren Augen.

,,Ihre Eltern würden sich für ihre Aussagen ja nahezu schämen. Du sollst angeblich depressiv geworden sein oder Lewis in den Tod folgen wollen", erzählt Zoe plötzlich kopfschüttelnd und ich kann sie verstehen.

,,Ich wurde oft wegen dir angesprochen, Olivia. Viele haben mich einfach nur ausfragen wollen, nachdem das Mitleid vorbei war und letztendlich haben sie hinter meinem Rücken geredet", erkläre ich dann und nippe an meinem Kaffee. Ich weiß, dass ich relativ viel für Olivia auf mich genommen habe, aber es hat Olivia die Zeit gegeben, die sie brauchte und auch wenn es mich bis an meine Nerven gebracht hat, hatte es einen guten Zweck.

,,Wie auch immer. Schön dich gesehen zu haben, Olivia. Ich muss weiter", erklärt Zoe uns dann lächelnd und verschwindet aus dem Café, was mich ziemlich verwundert. Ich ignoriere es allerdings und wende mich an Olivia, die mich angrinst, bevor ihr Grinsen verschwindet.

,,Hast du eigentlich schon die Notizen von Lewis gelesen?", fragt sie mich und spielt nervös mit ihrer Tasse Cappuccino. Ich trinke lieber schwarzen Kaffee mit Zucker.

,,Sie liegen immer noch auf meinem Tisch. Ich lese sie mir irgendwann heute Abend durch, aber ich weiß, was mich da erwartet."

Sie senkt ihren Kopf und nickt träge, bevor sie einen Schluck aus ihrer Tasse nimmt und ich aus dem Fenster schaue. Die Leute laufen an dem Café in Ruhe vorbei und ich will mich ungern an die Zeiten mit Lewis erinnern. Ich bin viel zu müde. Die Notizen will ich auch nicht unbedingt lesen, aber mir bleibt nichts anderes übrig. Ich will sie wenigstens einmal lesen, bevor ich sie mit Olivia gemeinsam verbrenne. Lewis wollte noch nie, dass irgendwas von ihm hinterlassen wird und so bleibt mir nur das eine Foto von uns beiden mit blutigen Nasen, dass Olivia geschossen und vergessen hat. Ich habe es in einer leeren Zigarettenschachtel, damit es wenigstens mit etwas verbunden ist, was Lewis gerne tat. Ich habe Olivia zwar nie von diesem Foto erzählt, da ich es selbst noch bis gestern vergessen hatte, aber es ist das Einzige, was außer seiner Wohnung und seiner Einrichtung noch geblieben ist. Ich tue Lewis lediglich einen Gefallen, wenn ich seine Notizen verbrenne. Er wollte nie, dass man diese erbärmliche, schwache Seite von ihm sah und dies hat er mit allen Mitteln, vermutlich unbewusst, verhindert.

Dead friendWo Geschichten leben. Entdecke jetzt