Vierundzwanzig

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Nach Fiets Feststellung geht alles ganz schnell. Sofort werden einige hochausgebildete Myths herbeigerufen, die den kompletten Tatort untersuchen, und alle sind sich sicher: Dies war die Tat einer Hexe. So richtig nachvollziehen kann ich diesen Schluss zwar nicht, aber ich halte mich bedeckt. Ohnehin machen Pascal und ich nach dem Eintreffen der Hochrangigen nichts anderes, als zu versuchen, anderen nicht im Weg zu stehen. Dies gestaltet sich bei dem Aufgebot an grimmig schauenden Männern und Frauen aber ziemlich schwierig, sodass uns Fiet irgendwann mit den Worten "Kommt Kinder, geht wieder zurück" entlässt. Pascal sieht exakt so enttäuscht aus, wie ich mich fühle, als wir den Weg zurück antreten. Genervt und enttäuscht trete ich einen kleinen Stein in den Straßengraben und stoße einen leisen Frustrationslaut aus. Es ist ja nicht so, dass ich es bedauern würde, von der Leiche weg zu kommen. Aber einfach so weggeschickt zu werden, wenn's spannend wird, ist nicht so toll.
Lange Zeit schweigen Pascal und ich nun. Wir gehen immer weiter, an unserem Arbeitsplatz vorbei in die Innenstadt Maurizios. Irgendwie kommen wir beide auf den Einklang, erstmal eine Stärkung zu brauchen.
Wir halten an einer kleinen Kneipe an, von denen es nicht mehr viele gibt in meiner Heimatstadt. Nachdem ich die schwere Eichentür aufgestoßen habe und wir beide in die Wärme der Spelunke gelangen, kann ich das erste Mal wieder aufatmen und mich halbwegs geborgen fühlen in dieser Nacht. Der Wirt widmet uns ein Lächeln, das von einer gewissen Alkoholmenge zu kommen scheint. Überraschenderweise ist die Kneipe trotz dieser späten Uhrzeit noch gut gefüllt, und einige Gäste haben sogar etwas essbares vor sich stehen. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Wir gehen auf den letzten freien Tisch zu. Pascal schiebt mir sogar den Stuhl ganz gentlemanlike unter den Hintern.
Als der Wirt unsere Bestellung aufgenommen hat und wir ihn mit unseren Blicken bis in die Küche verfolgt haben, ergreife ich das Wort: "Ich glaube einfach nicht, dass dafür eine Hexe verantwortlich war. Schließlich können Hexer gar nicht hexen und hätten viel zu viel Angst vor den Hexen, um fremdzugehen." Ein kleines Lächeln umschließt meine Lippen, doch ich kann nicht genau sagen, ob dies versteckte Verzweiflung oder Hohn ist. Pascal legt den Kopf schief, während seine Hände unruhig auf den Tisch trommeln. Diesen Rythmus kann ich aber nicht hören, er geht im Stimmengewirr der Kneipenbesucher unter. "Ich denke es auch nicht", sagt er schließlich. Doch vor seinem nächsten Satz muss er erst mal schlucken. "Doch wenn es nicht die Hexen gewesen sind, muss es einer von uns getan haben." Mein Blick senkt sich, während sich ein Kloß in meinem Hals bildet. Und irgendwie verstehe ich, warum Fiet die Schuld auf die Hexen geschoben hat. Ein solch grausamer Mord, der von einem unserer Mitbürger begangen wurde? Eine schreckliche Vorstellung. Seit sich die Welt so sehr verändert hat, seitdem die Existenz von Hexen das komplette Leben auf den Kopf gestellt hat, haben wir uns immer auf unsere Mitbürger verlassen können. Wir hatten alle einen gemeinsamen Feind, den es zu bekämpfen galt. Stöhnend halte ich mir den Kopf. "Das ist alles einfach zu viel", seufze ich.
Als unser Essen angekommen ist und ich an einer sehr pfeffrigen Tomatensuppe schlürfe, bekommt Pascals Gesicht einen sehr nachdenklichen Ausdruck. "Sag mal, Maya was hältst du davon, wenn wir selbst ein paar Recherchen anstellen? Immerhin ist das eigentlich unser Job und wenn die, Verzeihung, Trottel von Myth in die falsche Richtung ermitteln, würden wir ihnen ja nicht in die Quere kommen", sagt er. Ich lasse den Löffel sinken. Heiße Suppe tropft wieder zurück auf den Teller und hinterlässt ein leichtes Muster auf der Tischdecke. Meine erste Reaktion sollte eigentlich sein, laut anzufangen zu lachen und dann Pascal zu sagen, dass wir schon auf die Myth vertrauen sollten. Immerhin sind wir noch in der Ausbildung und sie haben viel mehr Lebenserfahrung. Doch irgendwas hält mich davon ab, diesen Vorschlag abwegig zu finden. Ein kleines Gefühl des Zweifelns lässt mich langsam nicken. Dies akzeptiert Pascal zum Glück als Antwort. Seine nächste Anmerkung dreht sich um das Essen und ich steige dankend in die oberflächliche Unterhaltung ein.
Nachdem wir aufgegessen und bezahlt haben, natürlich die sensiblen Gesprächsthemen meidend, bringt Pascal mich noch zur Mytakemie. Vor dem Tor bleiben wir stehen. "Pascal, ich bin sehr glücklich, dass du mein Arbeitskollege geworden bist. Ach was, du bist nicht nur das, du bist ein Freund", bricht es da aus mir heraus und ich umarme ihn fest. "Nur die Ruhe, Maya" sagt Pascal und schiebt mich sanft weg, allerdings verrät ihn ein kleines Lächeln um die Lippen.
Plötzlich ertönt ein lautes Quietschen hinter uns. Die Schultür wird aufgedrückt und ein sehr grimmig dreinschauender Lyan erscheint. Seine Stimme klingt kalt, als er anfängt zu sprechen. "Maya, wir haben von Fiet Bescheid bekommen. Wo warst du?" Sein Blick huscht kurz zu Pascal. 
Ich runzele die Stirn. "Wir waren essen", sage ich dann aber doch. Lyan seufzt, scheinbar ist er mit meiner Antwort nicht sonderlich zufrieden. Jedoch sagt er zum Glück nichts mehr, sondern geht zur Seite und lässt mich eintreten. Ich werfe Pascal nur noch ein schnelles Lächeln zu, ehe ich eintrete.
Sobald ich in der Mytakemie bin, schließt Lyan die Tür ab und verschwindet ohne ein Wort wieder im Nebenzimmer. Ich will ihm eigentlich nachgehen, aber dann merke ich erst, wie unglaublich müde ich bin. Die Sonne ist schon vor längerer Zeit aufgegangen, und der Schrecken steckt mir immer noch tief in den Knochen. Also beeile ich mich, schnell ins Bett zu kommen. Sobald mein Kopf das Kissen berührt hat, bin ich eingeschlafen.

Der erste Moment, an dem ich merke, dass hier irgendetwas nicht stimmt, geschieht relativ schnell nachdem ich eingeschlafen bin. Ich bin in einem Raum, der mir irgendwie bekannt vorkommt. Aber nicht so, als ob ich im Wachzustand irgendwann mal hier war. Nein, es fühlt sich eher so an, als ob ich schon mal von ihm geträumt hätte. An den Decken hängen schwere Kronleuchter und der große, massive Tisch kommt mir erschreckend bekannt vor. Doch als ich einen Schritt auf ihn zumachen möchte, um durch eine Berührung eine Lösung für dieses Rätsel zu bekommen, kann ich mich nicht bewegen. Ich kann mich noch nicht mal umschauen, einzig meine Augen sind nicht festgefroren. Sie huschen nun unruhig durch den Raum, während ich mir einzureden versuche, nicht in Panik auszubrechen. Immerhin träume ich nur, ist mein Mantra. Da ist es vollkommen normal, sich nicht bewegen zu können. Das kann man überall in diesen alten Büchern über Träume lesen.

Wovon ich aber noch nie gehört habe, ist, wie man sich solch einen glücklich machenden Geruch ausdenken kann, wie er nun in meine Nase strömt. Und auch dieser kommt mir so erschreckend bekannt vor.
Meine Grübeleien werden unterbrochen, als eine Tür aufgeht, die ich bis dahin noch gar nicht bemerkt habe. Und sie schwenkt auch nicht im herkömmlichen Sinne auf, sie ... löst sich einfach so auf. Als ich dann die Person erkenne, die eintritt, hätte ich mir am liebsten gegen den Kopf geschlagen. Es ist Anieta. Ihre langen, dunklen Haare hat sie in einem dicken Zopf gebändigt, und sie trägt ein silberfabenes Kleid, das ihr bis zu den Knien geht. Doch trotz ihres mädchenhaften Aussehens wirkt sie so bedrohlich, wie ich noch niemand anderen gesehen habe. Ihre Augen, auf die ich eigentlich noch nie so richtig geachtet habe, haben nun ein so stechendes, strahlendes Blau, dass sogar mein Körper zurückweicht, als er von ihrem Blick gestreift wird.
Nun erinnere ich mich auch wieder, woher ich diesen Raum kenne. Er ist das Esszimmer im Haus von Anieta und Jus. Ich war hier nur einmal für das Abendessen, deswegen konnte ich mich so schlecht an ihn erinnern. Beeindruckend, wie gut sich mein Hirn offensichtlich die Details gemerkt hat.
Anieta schreitet in die Mitte des Raumes, wobei mir auffällt, dass sie locker zehn Zentimeter über dem Boden schwebt. Als sie am Tisch angekommen ist, reicht eine kleine Fingerbewegung, um ihn mit voller Kraft gegen die gegenüberliegende Wand knallen zu lassen. Mein Körper zuckt zusammen, beobachtet aber weiterhin Anieta. Ich hätte mir aber lieber angesehen, ob der Tisch oder die Wand ihren Zusammenknall überlebt hat. Vermutlich sind beide kaputt.
Anieta zieht eine ihrer Augenbrauen minimal hoch. Ihr einziger Kommentar ist: "Ups. Das war wohl zu viel Kraft".
Dann erst bemerkt sie mich, oder besser gesagt meinen Körper, den ich nicht bewegen kann. "Wann kommt sie", fragt Anieta dann mit ihrer kräftigen Stimme. Mein Körper zuckt nur mit den Schultern, sagt aber nichts. Das braucht er aber auch nicht, denn nur Sekunden später erklingt der schrille Ton zerscheppernen Glases. Eines der kunstvoll gestalteten, beeindruckenden Fenster, die einen Blick auf den opulenten Garten zulassen, zerspringt in tausend Teile. Als sich der Glasregen gelegt hat, erkenne ich Sneakers und lange Beine, die sich energisch auf Anieta zubewegen.
"Madame Tarot, pünktlich auf die Minute". Anietas Worte klingen vorwurfsvoll, auch wenn ich beim besten Willen keinen Fehler auf Seiten des Gastes erkennen kann. Bis auf die Tatsache natürlich, dass der Gast gerade fast komplett eine Scheibenfront zerstört hat. Die Frau, ich würde sie auf um die vierzig schätzen, streicht sich eine ihrer roten, kurzen Haarsträhnen aus dem Gesicht. "Ani, du 'ast gerufen und isch bin gekommen", sagt sie mit dem Anflug eines Lächelns. Anieta verzieht keine Miene. Stattdessen verändert sie durch eine kleine Fingerbewegung das Aussehen der noch stehenden Esstühle zu roten Ohrensesseln, auf die sie sich setzt, nur um wenige Sekunden später wieder aufzuspringen. "Sie haben es wieder getan, Madame. " Kurz denke ich, sie macht dem plötzlichen Gast einen Vorwurf, doch dieser Gedankengang wird mir genommen, als sie antwortet.
"Ja, isch 'abe auch schon ge'ört davon. Diese Myth sind eindeutig zu weit gegangen."

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