Ayokas Bauch knurrte wie ein wütender Wolf und fühlte sich an, als würde er sich selbst auffressen. Der Hunger lähmte nicht nur ihren Körper sondern auch ihre Gedanken.
Sie war kaum noch in der Lage ihre Umgebung zu erkennen.
Den kleinen grauen Raum in dem sie sich befand nahm sie fast nicht mehr wahr. Viel gab es hier auch nicht zu sehen. Der einzige Gegenstand in diesem Raum war die harte Liege auf der sie lag. In der Wand gegenüber befand sich eine schwere Holztüre in die eine kleine Öffnung eingelassen war.
Gerade als sie dachte sie würde gleich endgültig die Besinnung verlieren, hörte sie leise Schritte den Gang entlang gehen, die vor ihrer Tür anhielten. Kurz darauf wurde die kleine Öffnung in der Tür aufgeschoben. Die metallenen Scharniere quitschten unangenehm.
Eine von Arbeit zerschundene Kinderhand warf ein kleines Stück Brot zu ihr hinein.
Darauf folgte mühselig ein Eimer Wasser, wobei die Hälfte des Wassers herausschwappte, als er auf den Boden knallte.
Die Öffnung wurde wieder zugeschoben und die Schritte verklangen.
Mit aller Kraft schaffte Ayoka es zu dem Brot und dem Wasser zu kriechen. Sie nahm das Brot in beide Hände und biss gierig hinein. Es war leicht verkohlt, doch es kam ihr vor wie das Leckerste das sie je gegessen hatte.
Nachdem sie das Brot gegessen hatte, schaufelte sich mit beiden Händen das Wasser in den Mund. Das kühle Nass tat so gut!
Ayoka atmete ein paar mal tief durch. Ihre Sicht klärte sich etwas und sie konnte wieder klarer denken.
Wie lange sie hier festhalten werden würde wusste sie nicht, doch man brauchte ihre Fähigkeiten. Keiner hier konnte so gut heilen und Kranke versorgen, wie sie. Nicht dass es jemandem Sorgen bereitete, wenn ein Kind plötzlich krank wurde. Vielmehr bedauerte man die fehlende Arbeitskraft.
Warum man sie überhaupt hier eingesperrt hatte?
Noch weniger als eine fehlende Arbeitskraft gefiel den Leitern ein Kind mit Gedanken an Freiheit und Gleichberechtigung, die es auch noch kund gab.
Ayoka hatte sich für ein kleineres Kind eingesetzt, dass ungerecht behandelt worden war.
Die Leiter mochten es nicht, wenn ein Kind sich widersetzte.
So saß sie nun also hier in dieser Zelle.
Sie befand sich im Keller des Weisenhauses.
Ja, ein Weisenhaus war es, in dem sich das Mädchen befand, doch das Ehepaar, das dieses führte, hatte es nicht gegründet, da sie Mitleid mit den Kindern hatten, sondern da sie Helfer auf ihren Feldern und im Haus brauchten.
Die beiden ließen die Kinder schuften, während sie sich fett aßen.
Ayoka war hierher gekommen, als sie fünf Jahre alt war. Ihre Eltern waren im Krieg gestorben.
Das Mädchen hatte ihre Eltern lange genug erlebt, um ihre Zärtlichkeit und ihre Liebe nie wieder vergessen zu können, aber doch viel zu kurz um ihre Nähe zu genießen.
Das ein Kind hier im Keller eingesperrt war, war nichts seltenes, doch Ayoka saß besonders häufig ohne Essen hier unten, denn jeder einzelne Mensch hatte für sie die gleiche Wichtigkeit und den gleichen Wert, wie ein anderer. Ihre roten Haare, die sich fast wie Flammen um ihren Kopf lockten, ließen ihr Ansehen bei den Weisenhausleitern nicht steigen.
Diese mochten Andersartigkeit nicht, sie verabscheuten sie geradezu.
Doch Ayoka hatte beschlossen ihre Werte niemals aufzugeben, egal, wie oft sie eingesperrt werden sollte.Nun vernahm sie mehrere leise Schritte. Eine ganze Gruppe von Kindern schien sich zu nähern.
Sie hielten tatsächlich vor der Holztüre an.
"Ayoka, na, wie geht's?", flüsterte eine bösartige Jungenstimme.
"Ich hoffe dir schmeckt dein Essen!", eine andere.
Nun ja, es waren nicht wirklich nur die Weisenhausleiter, die etwas gegen sie hatten.
Sie hieß Ayoka, "Die allen Freude bringt".
Diese schien hier allerdings niemand haben zu wollen.
Während die anderen Kinder sie vor der Tür nieder machten, dachte sie an die Welt hinter den großen Mauern.
Hinter den großen Mauern, die das Weisenhaus und seine Felder umgaben.
Wie die Welt dort wohl aussehen mochte? Genauso grau und böse wie sie innerhalb aussah?
"Wir besuchen dich morgen wieder.", flüsterte die Kinder zu ihr hinein.
Sie kommen wieder.
Die Geräusche der Kinder entfernten sich.
Nun war es still. Totenstill.Egal wie die Welt draußen aussah, sie musste besser sein als hier. Und wenn sie es nicht war, würde sie sie besser machen.
Sie hatte einen Entschluss gefasst.
Sie musste fort von hier!Ayoka warf einen Blick auf das kleine Fenster das sich knapp unter der Decke des Raumes befand.
Konnte sie es schaffen dort hinaus zu kommen? Würde sie es schaffen danach durch die Felder bis zur Mauer zu huschen, ohne gesehen zu werden? Und würde sie es schaffen die große Mauer zu überwinden?
Jetzt in der Dunkelheit hatte sie die größten Chancen.
Wie sie das Fenster erreichen sollte, war ihr unklar.
In dem Raum gab es nur eine klapprige Liege.
Wenn sie diese aufrecht hinstellen würde, würde sie es schaffen zum Fenster zu kommen?
Sie konnte es nicht erfahren, wenn sie es nicht ausprobierte. Also hob sie die Liege an der einen Seite an und schaffte es sie mit Kraft und Geschicklichkeit an die Wand zu lehnen. Nun bildete diese eine Art Rampe.
Auf allen Vieren versuchte Ayoka nach oben zu klettern. Die Liege gab erbärmliche Geräusche von sich, sodass Ayoka einerseits fürchtete, sie würde einbrechen und andererseits, dass man sie hörte und aufhielt.
Sie schaffte es tatsächlich ein ganzes Stück nach oben, doch sie rutschte kurz vor dem Fenster wieder ab und fiehl zurück auf den kalten harten Steinboden.
Immer wieder versuchte sie es und nahm so viel Anlauf, wie sie in dem kleinen Raum nehmen konnte.
Immer wieder rutschte sie ab.
Verzweifelt nahm sie ein letztes Mal alle Kraft zusammen und rannte los.
Sie streckte ihr Arme so weit aus, wir sie konnte und - erreichte den Fensterrahmen.
Sie klammerte sich fest und zog sich weiter hinauf. Auf dem schmalen Fensterbrett machte sie eine kurze Verschnaufpause. Sie versuchte nicht daran zu denken, was schief gehen konnte, sondern freute sich nur, dass sie es bis hierhin geschafft hatte.
Nun musste sie weiter.
Sie würde das Glas zerschlagen müssen. Sie verzog das Gesicht bei dem Gedanken daran. Das würde laut sein und weh tun.
Sie zog den Ärmel ihres zu großen braunen Kittels über ihre rechte Hand.
Dann schlug sie zu.
Es klirrte laut und ein scharfer Schmerz fuhr ihr den Arm hinauf.
Ihr Herz klopfte wild.
Das war laut gewesen!
Sie verharrte eine Weile still, doch als sie keine Geräusche vernehmen konnte, kletterte sie durch das zersplitterte Fenster, wobei sie aufpassen musste, sich nicht aufzuschlitzen.
Draußen war die Luft kalt und feucht in dieser Nacht. Ein leichter Wind wehte, der sie erschaudern ließ. Sie legte sie sich erstmal flach auf die Erde um tief durchzuatmen.
Dann krabbelte Ayoka durch den Dreck in Richtung Getreidefelder. Sie legte immer einen anderen Arm vor den anderen und zog ihren Körper nach. Ihre Kleidung fühlte sich schnell kalt, Nass und klebrig an.
Sie erreichte das Getreidefeld und schlängelte sie sich durch zur Mauer. Sie hoffte, dass das Weizen, dss sie um sie herum bewegte, sie nicht verrieht.
Den Blick auf den Boden gerichtet, bemerkte sie die Mauer erst, als sie mit den Kopf dagegen gestoßen war.
Sie türmte sich vor ihr auf, wie ein riesiges wütendes Monster, dass versuchen wollte sie aufzuhalten.
Gab es eine Tür in der Mauer?
Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, lief sie die Mauer entlang.
Bis sie tatsächlich eine Türe fand.
Sie war aus Holz und wirkte schon ziemlich morsch. Eine uralte geschwungene Messingklinke zierte die Tür.
Ayoka glaubte nicht wirklich, dass sie offen sein würde, doch sie drückte die Klinke trotzdem herunter.
Mit einem schrecklichen Kwietschen öffnete sie sich.
Das Mädchen riss die Augen weit auf.
Was für ein Glück! Das Weisenhausehepaar hatte wohl nicht gedacht, dass es eines der Kinder wirklich wagen würde zu fliehen.
Die Tür war erst einen kleinen Spalt offen.
Ayoka zögerte einen Moment. Sie hatte fast ihr ganzes Leben hinter diesen Mauern verbracht und ihr war ein wenig mulmig zumute, jetzt wo sie sie verlassen wollte.
Doch dann gab sie sich einen Ruck und drückte die Tür endgültig auf.
Entschlossen setzte sie ihren ersten Schritt in die Außenwelt.*°*°*°*°*°*°*°*°*°*°*°*°*°*°*°*°*°*°*°*°
Hier ist das erste Kapitel der Ayoka Geschichte. Vielen Dank fürs Lesen! 💞
Über Verbesserungsvorschläge freue ich mich immer.
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Ayoka
FantasyAyoka, deren Name "die allen Freude bringt" bedeutet, flieht aus einem Weisenhaus. Mit nichts als ein paar Äpfeln macht sie sich auf den Weg. Immer wieder begegnet sie hilflosen Menschen und kommt irgendwann in einer Stadt an, in der Krieg herrscht...