Ayoka fand das Wirtshaus bald und konnte sich mit den Münzen der alten Frau etwas zu essen und ein Zimmer für die Nacht leisten. Das Brot und der Käse schmeckten köstlich. Das Brot schmeckte intensiv nach Getreide und einfach nach gutem Brot. Der Käse war würzig und nussig.
Das Wasser war angenehm kühl und löschte ihren Durst.
Nach dem Essen legte sich Ayoka zufrieden in ihr Bett. Es hatte ein klappriges Gestell und eine dünne Matratze, doch Ayoka dachte, sie läge auf Wolken. Nach der aufregenden Flucht, dem anstrengenden Marsch und den Sorgen um die Natur des Menschen fühlte sie sich nun endlich entspannter.
So ist es auch nicht verwunderlich, dass sie bald einschlief.Am nächsten Morgen stand sie so früh auf, dass der Hahn noch nicht mal vom Aufwachen und Krähen träumte.
Es war noch dunkle Nacht, doch war sie nicht mehr schwarz, sondern viel eher grau.
Sie verließ ihr Zimmer mit ihrem letzten Apfel und den Münzen.
Der Wirt stand auch um dies frühe Stunde schon an der Bar.
"Ich möchte nun weiterreisen. Wie viel kostet der Aufenthalt und das Essen nun?", fragte Ayoka.
Der Mann verlangte etwa zwei Drittel ihrer Münzen. Sie schob sie ihm über die Theke.
"Gute Weiterreise.", brummelte der Wirt. Er schien nicht gut gelaunt zu sein. Entweder lag es an der Zeit oder er war immer so. Das konnte Ayoka nicht genau sagen.
"Vielen Dank! Ich hoffe mein Weg führt mich irgendwann hier her zurück. Ihr Essen war köstlich und das Bett fühlte sich an, als würde man auf Wolken schlafen.", lobte Ayoka den Wirt und lächelte ihr ehrliches, warmes Lächeln.
Der Wirt sah sie etwas verwundert an. Seine Mundwinkel zuckten kurz nach oben, dann blickte er noch finsterer drein als vorher, als wolle er nicht zulassen, dass ihn jemand zum Lachen bringt.
"Wie nett von ihnen. Und nun muss ich wieder an die Arbeit!", verabschiedete er sie hastig.
Ayoka winkte noch ein letztes Mal und ging dann zu der schweren, etwas verzogenen Türe hinaus.Nun ging ihr Weg weiter. Sie wollte zum nächsten Dorf laufen. Dann zum Nächsten und immer weiter, bis dass Schicksal ihr vielleicht einen Ort zum Bleiben zu flüsterte.
Sie folgte dem steinigen Weg also weiter. Jedes Haus versuchte sie sich zu merken, um es nie wieder zu vergessen.
Das Dorf war schön gewesen. Die Menschen hatten zwar einen etwas rauen Charakter, aber böse waren sie bestimmt nicht.
Nachdem sie an dem letzten Haus vorbei gelaufen war, entdeckte sie einen Friedhof zu ihrer Linken.
Neugierig lief sie näher.
Im Weisenhaus waren auch Kinder gestorben. Sie wurden dann hinter dem Haus im Boden verbuddelt. Nicht um ihnen eine angemessene Bestattung zu geben, sondern damit die Leichen nicht stanken.
Ayoka erinnerte sich noch sehr gut an die gestorbenen Kinder.
Eines war erst vier Jahre alt gewesen. Es hatte immer lustige Zöpfchen gehabt und Ayokas Hand halten wollen. Sie war gestorben, da sie sich heftig mit einem Messer geschnitten hatte. Sie war in einem der Felder verblutet, ohne dass irgendjemand etwas mitbekommen hatte und etwas tun konnte. Es war einer der schlimmsten Tage für Ayoka gewesen. Wenn sie dort gewesen wäre, hatte sie es bestimmt retten können. Es war ihr aber gar nicht aufgefallen, dass das Mädchen verdächtig lange in den Feldern und nicht wieder auftaucht war.
Auf diesem Friedhof des Dorfes wurden die Menschen also wertschätzend begraben, dass man sie nicht vergaß.
Ayoka öffnete das verzierte Eisentor und betrat den Friedhof.
Bäume streckten ihre Äste über den Weg, sodass eine Art Dach entstand.
Beidseitig des Weges lagen die Gräber, auf denen Grabsteine standen.
Darauf waren die Namen und Geburts-, sowie Sterbedaten zu lesen.
Ayoka hatte als einziges Kind im Weisenhaus lesen lernen dürfen, damit sie die medizinischen Bücher nutzen konnte. Doch viele Grabsteine waren schon so moosbedeckt und verwittert, dass man die Schrift kaum noch erkennen konnte.
Ayoka lief immer weiter, bis sie plötzlich einen Mann sah. Er war wie alle anderen Dorfbewohner gekleidet und stand reglos vor einem Grab. Es war ein breites Grab, also waren dort wahrscheinlich zwei Menschen begraben. Er hatte blonde glatte Haare, die er unregelmäßig kurz geschnitten hatte und eine große, kräftige Statur.
Seine Gesichtszüge zeigten keine Emotion, doch es schien etwas ganz und gar nicht in Ordnung zu sein.
Ayoka lief auf in zu und räusperte sich um in nicht zu erschrecken.
"Kann ich Ihnen helfen?", fragte sie ihn vorsichtig.
Langsam drehte der Mann sich zu ihr um. Seine Augen waren glasig und er hatte tiefe Augenringe.
Er sah sie eine Weile an.
"Mir kann gar nichts helfen.", sagte er mit emotionsloser Stimme.
"Möchten Sie mir sagen, was passiert ist?", fragte Ayoka und hoffte, dass sie nichts Falsches tat.
Er lachte, was sich nicht wirklich wie ein Lachen anhörte, so traurig klang es.
"Siehst du das Grab da?", fragte er.
Ayoka nickte und blickte auf das Grab. Wahrscheinlich war jemand gestorben. Das war schrecklich und Ayoka konnte ihn so gut verstehen.
"Dort liegen meine-", er stockte kurz, "meine Tochter und meine Frau begraben."
Stille.
Das war wirklich schrecklich. Ayoka sah in an. Wie einsam er aussah, wie zurückgelassen.
Sie wusste nicht, ob es unhöflich war, doch sie nahm seine Hand und drückte sie leicht.
Er schaute zu ihr hinunter und sagte dann:" Ich hoffe ihnen geht es gut, wo auch immer sie sind."
"Solange du sie nicht vergisst, sind sie nicht gestorben. Dass habe ich mir immer gesagt, wenn ein Kind im Weisenhaus starb.", erzählte Ayoka.
"Solange ich sie nicht vergesse?", fragte der Mann und schien den Teil mit dem Weisenhaus gar nicht gehört zu haben.
"Wenn du dich ohne einen Schmerz, der dich zu erdolchen scheint, an sie erinnern kannst, sind sie nicht verschwunden.", bestätigte Ayoka.
Der Mann schwieg eine Weile und Ayoka schwieg mit ihm.
"Den Schmerz werde ich nicht leicht loswerden.", sagte er dann.
"Das ist verständlich. Doch ist eine süße Erinnerung die beste.", sagte Ayoka.
Wieder schwiegen sie eine Zeitlang. Der Mann wendete seinen Blick nicht vom Grab ab.
Ayoka dagegen warf immer wieder einen Blick zu dem Mann, um zu schauen, wie es ihm ging.
Plötzlich fing der Mann an zu schluchzen und dann heulte er unkontrolliert los.
Ayoka drückte seine Hand und sah ihn betroffen an.
"Zehn Jahre war ich mit meiner Frau Anita verheiratet. Sie war der liebste Mensch auf Erden. Ihre Haare waren lang und blond und wunderschön, doch sie hat sie immer zusammengebunden und unter einer Haube versteckt. Wenn du ihre Kartoffelsuppe gegessen hast, dachtest du, du wärst im Himmel. Doch wieviel Leid hatte Anita ertragen, wie hart hatte sie arbeiten müssen! Und dann kam diese schreckliche Krankheit. Genommen hat sie mir meine liebe Frau, die immer an meiner Seite gewesen war und die ich von Herzen geliebt habe und immer noch liebe.
Und Ina, mein kleines unschuldiges Kind, dass das Leben noch gar nicht hatte leben können. Sie war erst zwei Sommer alt! Wenn Ina gelacht hat, ging die Sonne auf! Ihr Lachen hat alle Menschen um sie herum glücklich gemacht. Mit einem kleinen Püppchen hat sie immer gespielt und hat es lieb gehabt und auf es aufgepasst. Wenn ich die kleine Ina in meinen Armen hielt, hatte ich immer Angst, dass sie zerbricht. Sie war doch so klein und leicht und zierlich! Dann kam die Krankheit auch zu Ina und nahm ihr ungelebtes Leben fort.
Nur ich blieb verschont von der Krankheit. Nur ich blieb zurück.
Doch mit was habe ich es verdient zu leben, während sie sterben mussten?
Ich bin ein schlechter Vater und Mann gewesen. Hatte nie Zeit für sie, war immer schlecht gelaunt. Ich habe sie und die Zeit mit ihnen nicht genug geschätzt. Und sie mussten sterben. Diese unschuldigen, liebevollen Menschen, die es am wenigsten verdient haben!", erzählte der Mann, während ihm die Tränen über die Wangen liefen und sein ganzer Körper zitterte.
"Vielleicht sind sie jetzt irgendwo, wo es ihnen besser geht. Vielleicht schauen sie dir zu. Lass deine Trauer hinaus, doch dann musst du dein Leben weiter leben. Wenn sie dich für immer gebrochen sehen, werden bestimmt auch ihnen die Herzen brechen.", sagte Ayoka leise. Auch sie hatte ein paar heimliche Tränen geweint.
Der Mann drückte die Hand von Ayoka. Dann atmete er ein paar mal tief durch um sich wieder zu beruhigen.
"Du hast Recht!", murmelte er.
Dann sah er Ayoka an.
"Wer bist du überhaupt?", fragte er.
"Ich bin Ayoka und komme aus dem Weisenhaus, wo die Straße nicht mehr weiterführt. Ich bin geflohen.", stellte sie sich vor.
"Aus dem Weisenhaus geflohen? Hast du überhaupt Essen und Münzen dabei?", fragte der Mann.
"Ich habe noch einen Apfel und ein paar Münzen, doch wie heißen sie, wenn ich fragen darf?", fragte Ayoka.
"Ich heiße Theodor. Doch Ayoka, wie willst du mit so wenig Überleben?", sagte der Mann.
"Ich lasse mich überraschen.", sagte Ayoka. "Des Schicksal wird mich bestimmt richtig führen."
"Das Schicksal wird dir gar nicht helfen. Es hilft niemandem. Das Schicksal ist grausam.", sagte der Mann düster.
"Ach nein, ich bin sicher, dass das Schicksal auch mit ihnen noch etwas Gutes vor hat!", widersprach Ayoka.
Der Mann seufzte nur.
"Ach, ich habe noch ein paar Münzen, die ich dir geben kann.", sagte er.
"Wie kann ich die annehmen?", fragte Ayoka.
"Du hast mir geholfen den Schmerz etwas loszulassen! Dafür muss ich dir doch danken!", rief der Mann.
"Ich habe doch gar nichts getan.", sagte Ayoka.
"Doch das hast du!", widersprach der Mann. "Nimm die Münzen bitte."
Ayoka nahm sie dann doch entgegen.
"Vielen Dank, Theodor!", sagte sie.
"Bleibst du noch im Dorf?", fragte der Mann.
"Nein, ich wollte eigentlich gerade gehen...", sagte Ayoka.
"Dann tut es mir leid, dass ich dich aufgehalten habe. Ich wünsche dir noch eine gute Weiterreise!", sagte der Mann.
"Werden sie zurecht kommen?", fragte Ayoka besorgt.
"Darum muss du dich nicht sorgen, Kind.", sagte Theodor.
Er nickte ihr zu.
"Ich werde zurecht kommen!", beruhigte er sie.
"Dann vielen Dank für die Münzen und ihnen alles Gute, Theodor!", verabschiedete Ayoka sich und lächelte ihr warmes Lächeln, dass ihr Lachfältchen gab und ihre bernsteinfarbenen Augen zusammenkneifen ließ.
"Danke für deine Zeit und dir auch viel Glück!", verabschiedete der Mann sie.
Ayoka winkte noch und verließ dann den Friedhof.
Nicht ohne sich noch ein letztes Mal umzudrehen.
Da sah sie den Mann lächeln. Ein ehrliches Lächeln nach langer Trauer.
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Ayoka
FantasyAyoka, deren Name "die allen Freude bringt" bedeutet, flieht aus einem Weisenhaus. Mit nichts als ein paar Äpfeln macht sie sich auf den Weg. Immer wieder begegnet sie hilflosen Menschen und kommt irgendwann in einer Stadt an, in der Krieg herrscht...