Außenwelt

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Knarzend ging die Tür hinter ihr zu.
Ayoka spürte ihre wunden Finger, ihre blauen Flecken, ihren schmerzenden Rücken und ihr aufgeschürftes Knie nicht mehr.
Die Gedanken an die endlosen grauen Tage im Weisenhaus, die voll von Arbeit, Lieblosigkeit und Hunger gewesen waren, waren verschwunden.
Auch ihr schlechtes Gewissen, da sie die anderen Kinder zurückgelassen hatte, war irgendwohin verschwunden, wo sie es nicht finden konnte.
Ayoka hatte nur Augen für das, was vor ihr lag. Die Außenwelt.
Es war dunkle Nacht, doch die Sterne und der fast volle Mond leuchteten hell.
Vor ihr lagen weite Wiesen, die in einen dunklen Nadelwald übergingen.
Sie vernahm das Säuseln der Gräser und das Flüstern der Blätter.
Mit tiefen Atemzügen sog sie die kühle frische Luft ein, die nach Regen roch.
Ihre Sinne kannten all diese Sinneseindrücke, doch waren sie ihr noch nie so echt, so lebendig und so richtig vorgekommen. Es kam ihr vor, als wären ihre Sinne innerhalb der Mauern wie benebelt gewesen und erst das hier war Wirklichkeit.
Ein Windstoß fegte ihr ihre roten Locken kalt ins Gesicht.
Sie zog ihre Hände in die Ärmel des braunen langen Kittels, den sie schon so lange trug und der deshalb ein paar Löcher hatte, und zog ihre Strümpfe etwas weiter hoch, damit ihre Beine unter dem ebenfalls braunen Rock nicht froren.
Sie drehte sich um und schaute zurück. Die Tür hinter ihr war zu. Man konnte sie von dieser Seite nicht mehr öffnen.
Ayoka kamen leichte Zweifel. Es war kalt hier draußen. Wo sollte sie schlafen, was sollte sie Essen, wo sollte sie Wasser herbekommen und sie wusste nicht, was für Gefahren auf sie lauern würden.
Doch sie gab sich alle Mühe positiv zu denken.
Sie kannte sich mit Heilkunde aus. Sie würde sich verarzten können, wenn sie sich verletzte und wusste, was sie Essen konnte und wovon sie lieber die Finger lassen sollte.
Außerdem glaubte sie, dass sie nur der Kopfsteinpflasterstraße folgen musste, um in ein Dorf oder eine Stadt zu kommen.
Sie beschloss diese Nacht in der Nähe der Mauer zu schlafen. Sie hatte zwar Angst von den Weisenhausleitern entdeckt zu werden, doch die Mauern schienen Schutz zu bieten, der ihr in der ersten Nacht in der Wildnis recht willkommen war.
Ayokas Blick fiel auf einen alten Apfelbaum, der seine Zweige, trotz der schweren Last der Äpfel, hoch in den Himmel streckte.
Das war gut!
Ayoka fing an zu grinsen. Das war sehr gut!
Jetzt hatte sie einen Schlafplatz und Nahrung gefunden.
Sie lief darauf zu und fing bald an, wie betrunken durch die Nacht zu hüpfen.
Sie konnte sich nicht erinnern jemals so glücklich gewesen zu sein. Sie war frei!
Frei!
Keine Mauern, keine Befehle, keine Arbeit.
Frei.
Als Ayoka den Stamm des Baumes erreichte, blickte sie hoch und sah die Sterne durch die Blätter blitzen.
Die Welt war voller bezaubernder Augenblicke, so schien es ihr.
Sie legte sich zwischen die Mauer und die mächtigen Wurzeln des Baumes, wo es angenehm windstill war, und zog ihre Kleider eng um sich, um es möglichst warm zu haben. Der Boden war hart und uneben, doch trotz dem und ihrer Aufregung und ihrer Sorgen, schlief sie bald ein und türmte von Gänseblümchen, die sich in die Lüfte erheben und von Vögeln, deren Zwitschern Frieden bringt.

Ein Regentropfen platschte auf ihre Nase. Ayoka blinzelte und öffnete ihre Augen. Am Horizont begann die Sonne langsam ihre Reise durch den Himmel. Wolken leisteten ihr Gesellschaft; vielleicht hatte die Sonne sie deshalb zum Dank rosa gefärbt.
Ayoka stand auf. Sie musste nun wirklich fort von hier. Auf keinen Fall wollte sie gefasst und wieder zurückgebracht werden.
Der Apfelbaum hatte auch tiefe Äste, weshalb sie leicht hinauf klettern konnte.
Sie pflückte so viele Äpfel, wie sie erreichen konnte und sie würde tragen können.
Sie nahm den Saum ihres Kittels, sodass eine Art Tasche entstand und legte die Äpfel hinein.
Dann machte sie sich auf den Weg.
Ihr Schuhwerk war oft benutzt und alt, doch es waren sehr robuste Schuhe, von denen Ayoka hoffte, dass sie ihre Füße lange schützen würden.
Mit einem Lächeln im Gesicht lief sie auf der Kopfsteinpflasterstraße los und sah sich dabei nicht nochmal nach dem Weisenhaus und den vielen Jahren, die sie dort verbracht hatte, um.
Ihre Augen waren auf den Wald vor ihr gerichtet.

So lief sie, bis sie den Wald erreichte. Ayoka war überrascht, dass der Weg länger gewesen war, als er ausgesehen hatte.
Sobald sie in den Schatten der Bäume trat, wurde es kälter. Die Sonne schien hier nicht sehr willkommen zu sein.
Die Straße fühlte sich nun weicher unter Ayokas Füßen an, da er voll mit Tannennadeln war.
Egal wie schön die Bäume mit dem Sonnenlicht spielten, musste Ayoka sich eingestehen, dass sie doch etwas Angst hatte. So schön die Sonnenstrahlen waren, so gruselig waren die tiefen Schatten zwischen den Bäumen.
Sie wollte sich nicht vorstellen, was sich dort versteckte.
Doch mutig lief sie immer weiter.

Irgendwann begannen ihre Füße zu schmerzen und die Äpfel immer schwerer zu werden.
Ayoka entschied, dass sie nach der nächsten Kurve eine Pause machen würde.
Da öffnete sich vor ihr plötzlich der Wald und eine Lichtung lag vor ihr. Sie war nicht besonders groß und das Gras wuchs hoch. Viele Wildblumen blühten und verbreiteten einen seltsamen süßlichen Duft.
In deren Mitte stand ein kleines, schrecklich heruntergekommenes Haus. Es war aus Holz und hatte ein Dach, dass wohl einst rot gewesen war. Inzwischen war das Holz an einigen Stellen aufgesprungen und ausgebleicht, das Dach von Moos bewachsen.
Ob dort jemand wohnte?
Ayoka näherte sich dem Haus und klopfte dann vorsichtig an.
Nichts.
Vielleicht war sie zu leise gewesen. Sie klopfte noch einmal lauter.
"Geh weg! Ich hab kein Geld!", kam eine leise, heisere Stimme von innen.
"Ich will kein Geld. Ich wollte nur fragen, wie weit das nächste Dorf entfernt ist. Ach, und ich heiße Ayoka.", versuchte sie die Person zu beruhigen.
"Hast du was zu essen? Wenn ja komm rein und ich sag dir wie lange du noch laufen musst. Ansonsten geh weiter!", krächzte die Stimme. Es schien eine alte Frau zu sein.
"Ich habe nur ein paar Äpfeln dabei.", sagte Ayoka.
Mit einem schrecklichen Quietschen öffnete sich die kleine Holztüre.
Eine sehr alte Frau blickte sie prüfend an.
Als sie Ayoka erblickte, wirkte sie etwas überrascht.
"Was machst du junges Mädchen hier im Wald?", fragte sie.
"Ich bin aus dem Weisenhaus am Ende der Straße geflohen und suche das nächste Dorf.", versuchte sie zu erklären.
"Aus dem Weisenhaus weggelaufen, aha!", murmelte die Frau.
"Du hast Äpfel dabei? Hast du genug um mir ein paar abzugeben? Ich bin so schwach geworden, dass ich gar kein Essen mehr beschaffen kann und hierher verirrt sich fast nie jemand. Seit zwei Wochen nichts gegessen, zwei Wochen.
Keine Menschenseele, nie. Aus dem Dorf nicht und auch sonst woher niemand...", brabbelte sie und machte einen etwas verwirrten Eindruck auf Ayoka.
Sie konnte gar nicht glauben, dass die Frau zwei Wochen ohne Essen überlebt hatte. Wie einsam sie auch gewesen sein musste!
Ayoka hatte sieben Äpfel dabei. Sie würde ihr welche davon geben. Sie selbst würde bestimmt bald ein Dorf erreichen und könnte sich dann um Nahrung kümmern.
Ayoka nahm vier der Äpfel und gab sie der alten Frau.
Diese begann zu strahlen, doch dann murmelte sie zu sich selbst: "Wie soll ich das von einem jungen Mädchen wie dir annehmen, dass selbst fast nichts besitzt? Nein, nein, dass ist nicht richtig."
"Nehmen Sie sie ruhig! Ich werde bestimmt bald in ein Dorf kommen und kann dort nach etwas zu Essen schauen. Sie kommen dort doch nicht hin...", beruhigte Ayoka die alte dünne Frau.
Diese blickte lange in Ayokas warme bernsteinfarbene Augen und nahm dann die Äpfel entgegen.
"Du hast ein Herz, mein Kind und benutzt es auch. Das ist selten!", sagte sie.
Sie verschwand kurz in ihrem kleinen Haus.
Zurück kam sie mit ein paar Münzen.
"Ich bin nicht arm, aber Geld bringt mir nichts, wenn ich von niemandem etwas kaufen kann. Geld kann ich nicht essen. Nimm es, du wirst es in dem Dorf brauchen.", erklärte die Alte.
"Das ist wirklich lieb von ihnen. Vielen Dank! Wie lange muss ich denn noch dorthin laufen?", fragte Ayoka.
"Wenn du jetzt noch eine Weile läufst, im Wald die Nacht schläfst und dann weitergeht, wirst du gegen Mittag angekommen sein. Geh also jetzt los!", antwortete die Frau.
"Danke! Ich wünsche ihnen alles Gute und vor allem bald Gesellschaft!", verabschiedete sie Ayoka.
Sie winkte der dünnen Alten und setzte dann ihren Weg fort.
Die Frau sah ihr mit einem Lächeln hinterher und biss glücklich in einen Apfel.

AyokaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt