Ayoka setzte ihren Weg zum nächsten Dorf fort. Sie war froh, dass die alte Frau ihr den Weg erklärt und Münzen gegeben hatte.
Von ganzem Herzen hoffte sie, dass bald jemand die Alte besuchte und mehr zu Essen mitbrachte, als ein paar Äpfel.
Vielleicht würde sie selbst irgendwann wieder zurückkommen, doch Ayoka wusste nicht im geringsten, wo das Schicksal sie hinschicken würde.
Das Mädchen mit den roten Locken lief schon eine Weile durch den dunklen Wald. Sie hatte zum Glück einen sauberen Bach finden können, wo sie ihren Durst gestillt hatte. Inzwischen war die Sonne fast wieder untergegangen.
Der auch am Tage etwas dunkle Wald, wurde nun immer schwärzer, als würde man ihn in ein Tintenfass tauchen.
Ayoka hörte verschiedene Tiere im Wald. Da waren noch die letzten Vögel unterwegs, dort wachten die Fledermäuse auf und da hinten waren undefinierbare Raschelgeräusche im Laub zu hören, vielleicht von einer Maus.
Sie war auch schon einem Fuchs begegnet und hatte sich dabei gehörig erschreckt. Später hatte sie aber überlegt, dass das kleine rote Tier sich wohl mehr vor ihr erschreckt hatte, als sie vor ihm.
Die alte einsame Frau hatte gesagt, dass sie einen Schlafplatz für die Nacht finden und am nächsten Tag weiterlaufen sollte.
Ayoka hielt also nach einem geeigneten Ort Ausschau.
Ihr war nicht ganz wohl bei dem Gedanken auf dem Boden ohne Schutz zu schlafen. Sie hatte zwar noch keine gefährlichen Tiere gesehen, doch das hieß ja nicht, dass es sie nicht gab.
Von einem Baum würde sie aber vielleicht im Schlaf herunterfallen.
Dann kam ihr die Idee mit Ästen eine Art Wehrzaun um einen Baumstamm und sich selbst zu bauen. Der Baumstamm würde ihr das Gefühl von Sicherheit geben und der Zaun würde ihr diese wirklich gewährleisten.
So fing sie also an Äste zu sammeln. Das war gar nicht so leicht, da sich irgendwie keine passenden finden ließen.
Irgendwann wurde sie dann doch fertig. Sie dichtete den Zaun noch mit Blättern und kleineren Zweigen ab.
Zufrieden betrachtete sie ihre Arbeit. Nicht schlecht für das erste Mal, fand sie.
Sie legte sich in den Ästekreis und legte ihren Kopf an den Baumstamm.
Auf einmal fühlte sie sich schrecklich einsam. Das Weisenhaus war ein grauenvoller Ort gewesen, doch dort waren andere Menschen gewesen. Wenn sie es sich recht überlegte, war sie aber auch da allein gewesen. Sie hatte dort keine Freunde gehabt oder überhaupt jemanden zum Reden. Jedes Kind war dort auf sich selbst konzentriert und darauf den Tag so gut wie möglich zu überstehen.
Dann schweiften Ayokas Gedanken in ihre Zukunft. Wo würde sie hinkommen? Eigentlich war es ihr egal. Sie hatte nur aus dem Weisenhaus hinaus gewollt.
Außerdem wollte sie ihrem Namen gerecht werden. Sie wollte anderen Freude bringen. Das war für sie der Sinn des Lebens. Sie glaubte, dass ein Mensch auf die Welt gekommen war, um anderen zu helfen. Warum sonst? Um noch mehr schlimme Dinge anzurichten? Bestimmt nicht! Sie war sich allerdings bewusst, dass sie nur ein winzig kleines Teilchen auf dieser Welt war und genauso bedeutungslos. Aber vielleicht könnte sie die Welt eben dieses winzig kleine bisschen besser machen.
Sie war gar nicht in der Lage weiter über diese Sachen nachzudenken, denn sie schlief einfach ein. Der Weg bis hierher war wohl anstrengender gewesen, als sie gedacht hatte.Die Sonne schien schon lange am Himmel gestanden zu haben, als Ayoka erwachte. Es musste später Vormittag sein. Sie stöhnte auf. Eigentlich hatte sie Mittags im Dorf sein wollen.
Sie aß zwei der drei Äpfel, die sie noch besaß und merkte plötzlich, wie hungrig sie gewesen war. Das Gefühl war ihr aber nicht unbekannt. Schon sehr oft hatte sie hungern müssen, weshalb sie auch sehr dünn war. Durch die harte Arbeit im Weisenhaus war sie nicht nur dünn, sondern auch sehnig und stark.
Die Äpfel schmeckten sehr gut. Sie waren frisch, knackig und leicht sauer.
Nach diesem dürftigen Frühstück sammelte sie den letzten Apfel ein und schaute, ob die Münzen der alten Frau noch in der kleinen Tasche an ihrem Kittel waren.
Sie warf noch einen letzten Blick auf ihr Lager und setzte dann ihren Weg in Richtung Zivilisation fort.
Es war heute etwas kühler als gestern. Ayoka fror etwas, auch da die Kälte der Nacht noch in ihren Knochen saß. Sie lief also schneller um sie zu vertreiben und um nicht zu spät im Dorf anzukommen.
Etwas Sorgen bereitete ihr dieses Dorf schon. Sie war noch nie außerhalb der Mauern des Weisenhauses gewesen (abgesehen natürlich von ihren ersten fünf Lebensjahren) und wusste nicht was sie erwarten würde. Wie mochte ein Dorf wohl aussehen? Wie waren die Menschen dort? Ein bisschen hatte sie im Weisenhaus mitbekommen. Die Weisenhausleiter hatten immer wieder betont, wie grausam die Welt draußen ist. Wie schrecklich böse die Menschen sind. Ayoka bezweifelte nicht, dass die Menschen böse waren; jeder war etwas böse, auch sie, davon war sie überzeugt, doch sie glaubte fest daran, dass jeder Mensch auch gut war. Auch die Weisenhausleiter oder die Kinder, die sie immer wieder gehänselt hatten.
Wie sollte es möglich sein, dass ein Mensch nur gut ist? Jeder hat doch schon mal etwas Schlechtes getan. Aber dann war es doch genauso wenig möglich, dass ein Mensch ausschließlich böse ist.
Sie wusste also nicht, ob sie den Worten der Weisenhausleiter glauben sollte. Diese hatten viel mehr Erfahrungen als sie und wussten mit Sicherheit mehr. Doch schon oft hatten sie nicht die Wahrheit gesagt.
So dachte sie über das Dorf nach, während sie in schnellem Schritte in dessen Richtung lief.
Zum ersten Mal war Ayoka froh so hart in dem Haus hinter den Mauern gearbeitet zu haben, da sie deshalb nicht so schnell außer Atem geriet.Irgendwann bemerkte Ayoka, dass der Wald immer lichter wurde. Jetzt war sie wirklich schrecklich aufgeregt. Dort vorne lag bestimmt das Dorf.
Inzwischen waren Ayokas Beine müde geworden und schmerzten, doch sie lief noch einmal schneller.
Dann machte der Weg eine letzte Kurve.
Da lag das Dorf in sanfte Hügel und Wiesen gebettet und von Feldern umgeben vor ihr.
Ob es allerdings wirklich ein Dorf war, konnte Ayoka nicht sagen. Es waren nämlich nur eine Handvoll Bauernhöfe, die sich aneinander schmiegten, als müssten sie sich gegenseitig gegen das Böse der Welt schützen.
Zwischen den wenigen Holzhäusern waren die Dorfbewohner zu sehen. Sie trugen alle schlichte Kleidung, die aussah, als würde sie zur Arbeit taugen.
Zu arbeiten schien hier jeder. Sie trugen Sachen durch das Dorf, schlugen Holz, klopfen Wäsche, putzten die Fenster oder gossen die Blumen.
Auch auf den Feldern wurde hart gearbeitet. Es wurde Unkraut gerupft, gegossen und auf manchen Felder sogar schon geerntet.
Böse sahen die Menschen und das Dorf nicht aus. Nur sehr geschäftig.
Ayoka folgte dem Weg weiter und lief neugierig zwischen die Häuser.
Plötzlich stolperte sie fast in einen Mann, der einen Korb mit Holz trug, hinein.
"Entschuldige bitte!", rief sie.
Der Mann brummte nur, musterte sie dann näher.
"Neu hier, was? Wennste nach dem Wirtshaus suchst, des ist gleich da vorn! Kannste gar nicht übersehen, das einzige hier. ", sagte er dann.
"Vielen Dank! Das ist nett von ihnen.", bedankte sich Ayoka.
"Wer biste überhaupt? Hab noch nie was wie dich gesehn. Wie hast denn das rote Haar bekommen? Bist ganz schön jung, dafür dass du allein auf Reisen gehst. Haste was verbrochen?", fragte er auf einmal misstrauisch.
"Ich bin auf dem Weg.", sagte Ayoka.
"Wohin?", fragte der Mann.
"Das weiß ich nicht. Überall ist gut. Ich wollte nur fort. Ich wollte mich nur auf den Weg machen. Um sich auf den Weg zu machen, braucht man doch kein Ziel, oder?", sagte Ayoka.
"Natürlich brauchste ein Ziel! Ein Weg ist doch was, dass dich zu nem Ziel bringt. Wennste kein Ziel hast, brauchste dich auch nicht auf den Weg zu machen!", widersprach der Mann. "Wie auch immer! Würde an deiner Stelle bald wieder von hier verschwinden! Unbekannte sind hier nicht so sehr willkommen.", rief er ihr.
"Werde ich machen! Danke für die Informationen.", bedankte sich Ayoka, lächelte dem Mann freundlich zu und ging dann weiter.
Der Mann schaute ihr hinterher und wunderte sich und lächelte leicht.
DU LIEST GERADE
Ayoka
FantasyAyoka, deren Name "die allen Freude bringt" bedeutet, flieht aus einem Weisenhaus. Mit nichts als ein paar Äpfeln macht sie sich auf den Weg. Immer wieder begegnet sie hilflosen Menschen und kommt irgendwann in einer Stadt an, in der Krieg herrscht...