Große und kleine Landstreicher

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Ayoka folgte der steinigen Straße weiter. Sie war schon gespannt, was sie als nächstes erleben würde, welches Dorf sie als nächstes betreten, welchen Menschen sie begegnen würde.
Eine Weile hingen ihre Gedanken noch bei Theodor. Wie schrecklich er sich fühlen musste. Sie hoffte wirklich, dass es ihm bald besser ging.
Dann schweiften ihre Gedanken zu dem Weisenhaus und dessen Bewohner. Sie fragte sich, ob es dort jemanden gab, der sie vermisste. Die Leiter vermissten sie vermutlich insoweit, dass ihnen nun ihre Fähigkeiten fehlten. Außerdem machten sie sich sicherlich Sorgen, dass Ayoka etwas über die schlechten Bedingungen und das wahre Motiv hinter dem Weisenhaus verraten würde.
Sie wusste noch nicht, ob sie es tun sollte. Vielleicht würde es den Kindern dort helfen, doch warum sollte ihr jemand glauben. Sie würde sich später weiter Gedanken darüber machen. Im Moment wollte sie nur den Sonnenaufgang genießen.
Sie blieb stehen, legte den Kopf in den Nacken und schaute mit großen Augen in den Himmel, während kühler Wind ihre roten Haare umspielte.
Die Sonne malte den Himmel an, wie sie es jeden Tag tat und wie jeden Tag schien es Ayoka wie ein farbenfrohes Wunder, dass alles andere so unwichtig machte.
Als die kleinen Wolken im Himmel die Sonne endlich an ihrer Seite begrüßen konnten, setzte Ayoka ihren Weg fort.
Links und rechts des Weges lagen hügelige Wiesen auf denen wilde Blumen blühten.
Ihre Füße schmerzten noch von dem letzten Wegabschnitt, daher kam sie etwas langsamer voran, als gestern, auch da der Weg durch den Wald ebener gewesen war.
Trotzdem genoß sie die Stille, die nur vom Wind und Vögeln unterbrochen wurde.
Plötzlich sah Ayoka etwas Dunkles auf der Straße vor ihr. Sie kniff die Augen zusammen, konnte aber nicht erkennen, was es war. Sie lief etwas schneller.
Je näher sie dem dunklen Fleck kam, desto mehr nahm er Gestalt an.
Langsam erkannte sie, dass dort ein Mann auf der Straße lag und ein kleines Kind neben ihm hockte.
Nun rannte sie.
Als das kleine Mädchen mit süßen braunen Locken und hübschen Augen Ayoka erblickte, zeigte sie auf den Mann.
"Ich habe den hier gefunden. Ihm tut das Bein weh. Er kann nicht mehr laufen.", sagte das Mädchen.
Ayokas Blick fiel auf den Mann am Boden. Er trug ärmliche Kleidung, die schon ganz zerrissen war. Es war die Kleidung eines Reisenden, eines Landstreicher. Seine blonden Haare waren lang und ungepflegt und klebten an seiner verschwitzten Stirn.
Sein Gesicht war schmerzverzerrt, doch er schien zum Glück noch bei Bewusstsein zu sein.
Was sollte sie tun? Ihr Gehirn war auf einmal leer.
Sie musste sich konzentrieren. Im Weisenhaus hatte sie so etwas doch auch hinbekommen.
"Ich werde jetzt versuchen ihnen zu helfen.", versuchte Ayoka mit möglichst beruhigender Stimme zu sagen.
Sie riss die Hose so vorsichtig, wie sie konnte auf. Sie sah sich das linke Bein des Mannes genauer an. Es lag seltsam verrenkt da, sah geschwollen aus und die Haut war am Schienbein unnatürlich bleich.
"Sie haben in ihrem Schienbein einen stechenden, heftigen Schmerz gespürt, wenn sie es bewegt haben oder Druck darauf ausgeübt wurde, oder?", fragte sie.
Der Mann nickte nur.
"Okay, ihr Bein ist wohl gebrochen, ich werden es schienen.", teilte Ayoka dem Mann mit. Zu dem Mädchen sagte sie:
"Schau bitte, ob du Stöcke siehst, die länger als das Schienbein des Mannes sind, ja?"
Sie selbst sah sich auch um, bis der Mann sie auf seinen Wanderstock aufmerksam machte. Der war glücklicherweise lang genug, sodass Ayoka in in zwei Teile brechen konnte und die Hälften noch länger als sein Schienbein waren. Nun zog sie ihren Kittel aus und legte in über das Bein, sodass es an den Seiten besonders gepolstert war. Dann nahm sie die Stöcke und legte sie an die gepolsterten Seiten des Beines. Die Stöcke endeten auf jeder Seite knapp unter dem Knöchel und über dem Knie. So waren die beiden Gelenke unter und über dem Bruch stillgelegt. Dann riss sie zwei Streifen vom Hemd des Mannes ab und band damit die Stöcke zusammen -vorsichtig, um den Blutfluss nicht zu stoppen.
Und was nun? Es wäre vermutlich das beste den Mann so schnell wie möglich in das nächste Dorf zu bringen, wo man ihm dann richtig helfen konnte. Doch zurück zu dem Dorf hinter ihr zu laufen war zu lang. Er würde es nicht schaffen.
"Wenn man dieser Straße weiter folgt, wann kommt das nächste Dorf?", fragte Ayoka die beiden.
"Es ist nicht sehr weit, zumindest wenn man zwei gesunde Beine hat.", sagte der Mann und lachte leicht.
"Es wäre das beste, wenn wir versuchen es bald zu erreichen, damit man ihnen richtig helfen kann.", erklärte Ayoka.
"Ist gut, doch ich würde gerne noch für einen kurzen Moment Kraft sammeln. Und danke für deine Hilfe! Wie heißt du eigentlich?", fragte der Mann.
"Dann machen wir noch kurz Pause. Ich bin Ayoka. Und wie heißen sie?", wollte auch Ayoka wissen.
"Leander."
"Schöner Name. Und wie heißt du?", fragte Ayoka das kleine Mädchen.
"Ich bin Lara.", sagte das Mädchen und hielt Ayoka ihre kleine Hand zur Begrüßung hin. Ayoka schüttelte sie und lächelte.
"Du hast gesagt, du hast Leander hier gefunden. Warst du davor alleine unterwegs?", wollte Ayoka wissen.
Plötzlich wurden Laras Augen traurig und glasig.
"Ich war mit meiner Mama wandern, aber dann habe ich sie verloren, weil ich weggerannt bin...", sie begann zu schluchzen.
Ayoka nahm sie tröstend in den Arm.
"Wohnt ihr in dem Dorf, in das wir nun gehen werden?", fragte sie.
Lara nickte.
"Dann finden wir deine Mutter bestimmt wieder!", versuchte Ayoka dem kleinen Mädchen Mut zu machen.
Der Mann, der seine Augen geschlossen hatte, öffnete sie nun wieder und teilte dann mit einem leisen Stöhnen mit, dass er bereit zum Aufbruch wäre.
Ayoka half ihm mit Vorsicht auf und er stützte sich zittrig auf sie. Er war ziemlich schwer, doch sie mussten das schaffen.
Lara nahm Leanders Besitztümer, die in ein dreckiges Tuch gewickelt waren und dann ging es los.
Die drei kamen nur sehr langsam voran. Der Mann hatte schreckliche Schmerzen, trotz des geschienten Beines, Ayoka hatte eine schwere Last zu tragen, da der Mann fast sein ganzes Gewicht auf sie stürzte und auch Lara hatte mit dem Tuchpaket einiges an Gewicht zu tragen.
Sie machten viele Pausen, doch irgendwann dachten sie, sie würden es nie schaffen. Ihre Kräfte waren am Ende.
Wie durch ein Wunder tauchte aber genau dann das Dorf vor ihnen auf. Sein erlösender Anblick gab den Erschöpften noch das letzte bisschen Kraft, dass sie brauchten.
Dieses Dorf war größer, als das Dorf in dem Ayoka davor gewesen war. Aus seiner Mitte ragte ein Kirchturm hervor und rings um ihn standen prächtige Häuser, zumindest kamen sie Ayoka so vor, da sie noch nie prächtigere Gebäude gesehen hatte.
Als sie das Dorf dann endlich betraten, hatte auch die Sonne schon einen langen Weg zurückgelegt und begann sich Schlafen zu legen, obwohl ihr Weg bestimmt nicht so beschwerlich gewesen war, wie der der drei Menschen, die gerade von den Dorfbewohnern empfangen und zum Arzt des Dorfes geführt wurden. Doch wer könnte das schon so genau wissen, außer der Sonne selbst?

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⏰ Letzte Aktualisierung: Aug 07, 2016 ⏰

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