your only doll

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"pourquoi est-ce qu'elle pleure?", fragte der kleine Junge und zeigt auf mich. Sein Vater antwortet nicht, dreht sich weg, um nicht unhöflich zu starren. Statt sich zu interessieren. Statt sich auch nur ansatzweise zu kümmern.
Ist immerhin nicht sein Problem.
"pourquoi est-ce qu'elle pleure?" wiederhole ich die Frage in meinem Kopf, immer und immer wieder bis mir schwindelig wird bei der Geschwindigkeit mit der sich die Wörter im Kreis drehen.
Warum weint sie denn?
Sie weint, weil sich alles viel zu lange in ihr angestaut hat. Die Worte ihres Vaters, die Blicke ihrer Mutter, die Kommentare ihrer Freunde. Das Starren der Fremden, nur weil sie eine ungewöhnliche Haarfarbe und zerrissene Hosen hat, sie fühlt sich auf einmal so hässlich und falsch und kaputt. Der ständige Gedanke an die unfertigen Aufgaben, das Versagen, die fallenden Noten. Das Missachten der Eltern.
"das kannst du doch besser. gib dir mehr mühe"
Stundenlanges Wachliegen jede Nacht, den Himmel über ihrem Fenster kann sie mittlerweile auswendig. Das leise Kratzen an den Wänden, als würden ihre Dämonen sich langsam manifestieren. Um sie bei lebendigem Leibe zu verschlingen. Dieses bedrückende Gefühl zu ertrinken, während doch alle um sie herum problemlos lachen und leben und atmen können.
Und dazu jetzt auch noch dieses fremde Land, das so völlig anders scheint, obwohl es gar nicht so weit von ihrem Zuhause weg ist. Eine Sprache, die sie seit Jahren lernt, und doch bringt sie kaum ein klares Wort hervor.
Es staut sich alles schon so lange an. Und trotzdem hat sie es einfach geschluckt. Und weitergemacht. Weil ihr nichts anderes blieb.
Also, pourquoi est-ce qu'elle pleure? Wieso weint sie denn auf einmal doch?
Weil das Mädchen, das sie liebt, jemand anderen erwählt hat, der doch nicht mal gut genug für sie ist und sie Stück für Stück kaputt macht. Weil sie doch nur bei dem Mädchen sein möchte, das sich lieber an den Scherben eines anderen schneidet. Sie möchte doch nur für ihr Mädchen da sein, doch deren Gedanken widmen sich ständig einem Anderen. Kein Platz für sie selbst. Zu unwichtig.
Es tut weh.
Es tut so weh, dass es wie ein Tropfen in den angestauten See aus Trauer fällt, der plötzlich überschwemmt, die Mauer vor ihren Augen durchbricht und überläuft wie ein reißender Fluss.
"pourquoi est-ce que je pleure?"
Ich weine, weil es weh tut. Es fühlt sich an, als würde etwas meinen Brustkorb und mein Herz zerdrücken. Auf einmal scheint es unertragbar. Und ich kann nicht mehr atmen.
Aber ich weiß, dass es vorbei gehen wird. Irgendwann, vielleicht nicht heute oder morgen, aber es wird vorbeigehen. Ich werde zurücksehen können, ohne zu weinen und stattdessen lächeln. Darüber hinweg sein. Auch wenn es mir jetzt so unglaublich schwer fällt. Auch nur einen anderen Gedanken als sie zu fassen.
Wunden heilen. Es werden Narben bleiben. Die vielleicht niemals vollkommen verblassen. Und auch falls ich sie wohl nie haben kann, wir nie mehr als Freunde sein werden und wahrscheinlich selbst das bald nicht mehr, werde ich überleben. Und sie in Erinnerung halten.
"pourquoi est-ce qu'elle pleure?"
Doch sie weint nicht mehr. Sie wischt sich ihre Tränen weg. Geht. Und baut ihre Mauer Stein nach Stein wieder auf. Ein klein wenig höher als zuvor.

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