Michael schaute auf seine schwere Uhr, die er am linken Handgelenk befestigt hatte. Ich hatte fast das Gefühl, dass er seine linke Hand einen Tick langsamer bewegte, vermutlich, weil dem Handgelenk die teure Uhr zu schaffen machte. Das beige Ziffernblatt war riesig, jedoch konnte ich keine Zahlen erkennen. Es war mit Gold umrahmt und mit Glas abgedeckt und ich sah nur zwei dünne, goldene Zeiger umherschweifen.
»Oh Mist, ist es schon so spät? Tut mir leid, Linnea. Wir müssen für heute Schluss machen. Komm morgen wieder, dann erkläre ich dir, was zu tun ist. Acht Uhr?«
Michael schien aber gar nicht auf eine Antwort zu warten und bat mich zu gehen. Er faselte nur so etwas wie: »Oh nein, wie soll ich das schaffen... die Gäste kommen... hatte ich den Hof schon gefegt... .«
Ich schnappte mir meine Jacke, verabschiedete mich kurz und ging den leeren Hof entlang zu meinem Fahrrad. Ich schaute auf die Uhr. Es war erst kurz vor neun und ich fragte mich, wer wohl gleich kommen würde, um die Kunstausstellung zu bestaunen.
Thomas hatte geantwortet. Um neun Uhr im Café um die Ecke? Ich teilte ihm mit, dass ich noch unterwegs war und wohl erstmal nach Hause fahren würde, um mich umzuziehen und Geld zu holen. Wir verabredeten uns um halb zehn, da ich nicht lang brauchte, um von zu Hause zum Café zu kommen. Es lag fast direkt neben unserem Haus.
***
Auf dem Rückweg bemerkte ich erst, dass Michael gar nicht gesagt hatte, ob er mich haben wollte. Okay, er hatte mich für Morgen acht Uhr wieder herbestellt, jedoch könnte es auch sein, dass er sich noch gar nicht so sicher war und das Vorstellungsgespräch nur weiterführen wollte.
Ich hatte mich entschieden, zuhause nichts zu erzählen, um Mama nicht falsche Hoffnungen zu machen. Ich wusste auch gar nicht, was mich bei dem Praktikum erwarten würde und hätte ihr deshalb sowieso nichts Genaueres erzählen können.
Glücklicherweise war Mama auch um kurz vor halb zehn gar nicht zuhause, weil sie wahrscheinlich erwartet hätte, dass ich ein bisschen länger weg bin. Vermutlich war sie einkaufen gegangen, weil sie es am Donnerstag immer tat. Sie könnte aber auch zu einer ihrer Freundinnen aus ihrer Schulzeit gegangen sein. Diese wohnte um die Ecke und war in ein paar Minuten zu Fuß zu erreichen. Vielleicht hat Mama ihr erzählt, dass ich jetzt endlich angefangen habe in die Zukunft zu schauen. Wobei ich mir da noch gar nicht mal so sicher war.
Ich schlüpfte aus meinem Kostüm raus, legte es sorgfältig zusammengefaltet in meinen Schrank und zog wie gewohnt meine schwarze Hose und meine graue Sweatshirt-Jacke an. Jetzt fühlte ich mich wieder wohl. Das war ich: Die graue Maus. Aber ich war stolz drauf.
Ich griff nach meinem Portemonnaie, überprüfte, ob ich noch genug Geld für einen Kaffee hatte, und ging aus dem Haus. Mein Bruder war zum Glück noch nicht aus der Schule zurück, sodass mich niemand aufhielt und ich pünktlich losgehen konnte.
Ich liebte meinen Bruder über alles, aber manchmal ging er mir mit seinem Abistress derartig auf die Nerven, dass ich ihn zu mancher Zeit lieber wegsperren wollte. Er war neunzehn und hatte in ein paar Wochen, oder eher gesagt in zwei Monaten, seine erste Prüfung. Ich hatte immer das Gefühl, dass er mir die ganzen Geschichten aus der Schule nur erzählte, um mir abermals deutlich zu machen, dass ich es zu nichts gebracht hatte. Das weiß ich aber auch selbst. Soll er doch erstmal siebenundzwanzig werden.
Ich hatte gerade so meinen Realschulabschluss geschafft und hoffte auf eine Ausbildung. Aber über die Jahre hinweg hatte sich eben nichts ergeben. Ich war mir sogar sicher, dass Jason, mein Bruder, nicht mal besonders gut in der Schule war. Er hätte auf der Realschule einen viel besseren Abschluss erreicht, aber für ihn war das egal. So ist das eben - der ewige Geschwisterkampf.
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Einen Augenblick für immer
Teen FictionEin Vater, ein Kind, eine Krankheit - und Linnea. Linnea ist faul, total perspektivlos und weiß nicht, wozu man sie überhaupt gebrauchen kann. Und das sollte sich nun ausgerechnet durch ein langweiliges Praktikum bei einer Kunstausstellung ändern? ...