Ein Buch über Alex - ithymie.
Ich werde das schaffen, irgendwie werde ich das wohl schaffen. Das dachte ich mir an diesem Morgen, als mich die Sonne weckte, die durch die kleinen Löcher der Jalousie ihren Weg suchte. Es war sechs Uhr. Ich lag in meinem Bett. Die Decke um meinen Körper gewickelt, sodass bloß keine Luft durch einen Schlitz kam. Es war Winter und die Rechnung für die Heizung konnten wir schon lange nicht mehr bezahlen.
So lag ich da und verschwand in meinen Gedanken. Ich schlief nicht wieder ein, ich döste nur...
»Liebling, bist du schon aufgestanden? Es ist sieben Uhr!«, schallte es von unten über den Flur durchs Treppenhaus in mein Zimmer.
»Jaha...«, gab ich entnervt zurück. Wieso kann mich Mama nicht einmal in Ruhe lassen.
Aber sie hatte ja recht. Ich musste mein Leben in die Hand nehmen. Ich war siebenundzwanzig, immer noch Single und wohnte zuhause. Erbärmlich.
Heute hatte ich ein Vorstellungsgespräch. Mama hatte mir extra ein teures Kostüm besorgt, was wahrscheinlich mehr gekostet hatte, als wir sonst im Monat ausgeben würden. Ich wäre auch so zufrieden gewesen: Mit einem Pulli, einer Jeans und Chucks. Aber ich wollte Mama nicht widersprechen. Das endete immer in einem Streit, bei dem ich noch tagelang sauer war - auf sie, aber auch auf mich. Ich konnte es einfach nicht ertragen, dass ich die einzige war, die noch nichts aus sich gemacht hatte.
Meine anderen Freundinnen hatten schon längst ihr Studium oder die Ausbildung beendet. Die eine war Ärztin, die andere Anwältin und noch eine war wenigstens Kindergärtnerin. Aber nicht mal das hatte ich geschafft. Ich war nichts. Das einzige, was ich bislang in meinem Leben gemacht hatte, war auf der Coach liegen und Fern gucken. Zwischendurch trieb ich auch noch Sport, um meine angefressenen Fettpolster wieder loszuwerden.
Erst vor kurzem hatte mich Mama und meine beste Freundin Samila dazu überredet, zum Jobcenter zu gehen. Und es hatte geklappt! Jemand wollte mich. Mit meinen durchschnittlichen Fähigkeiten hatte ich schon fast gehofft, dass die mich eh nicht einladen.
Meine Mutter war schrecklich heute. Sie zupfte an meinem Kostüm so lange herum, bis es so knitterich war, dass sie meinte, dass sie es nochmal schnell bügeln müsse. So stand ich auf dem Flur mit meiner rosa Unterhose und dem kleinen Bären darauf und wartete ungeduldig. Ich lag nicht viel Wert auf teure Unterwäsche. Schließlich sah sie ja eh keiner: Nur ich und meine Familie und denen war das herzlich egal.
»Ich denke, so kannst du es anziehen. Mach schnell, sonst kommst du noch zu spät zum Vorstellungsgespräch.«
Es war mittlerweile fünf nach halb acht. Um acht war der Termin. Hätte Mama nicht so einen Aufstand gemacht, wäre ich jetzt nicht so im Stress. Aber ich sagte nichts, weil ich wusste, wie lang sie auf diesen Tag gewartet hatte. Sie wollte immer, dass ich ein anständiges Mädchen werde - mit einem guten Job, einem tollen Haus und einer Familie. Heute sah sie für ihren Wunsch einen kleine Funken Hoffnung und den wollte ich ihr mit meiner Laune nicht schon wieder versauen.
Ich verabschiedete mich also brav, umarmte sie, gab ihr einen Kuss und ging. Ich spürte ihre Aufregung und als ich die Tür hinter mir schloss, konnte ich mir genau vorstellen, wie auf ihren Lippen ein kurzes Lächeln aufblitzte. In dem Moment war es schön, dass wenigstens einer von uns beiden an mich glaubte.
Ich ging mit meiner schwarzen Tasche, worin sich nur ein Collegeblock und ein Bleistift befand, aus dem Haus. Meine Unterlagen hatte ich denen schon zugeschickt, sodass ich nichts mehr mitnehmen brauchte. Ich folgte unserer kleinen Einfahrt in die Garage, holte unter lautem Quietschen und Rattern mein Fahrrad hervor und fuhr los. Mama schaute mir aus dem Fenster aus der Küche nach. Ich drehte mich nicht um. Ich war schon spät dran.
Ich fuhr die lange Straße entlang, nachdem ich an der kleinen Seitenstraße, an der nur ein einzelnes Haus stand, nämlich unseres, abgebogen war. Wir lebten so halb auf dem Land und halb in der Stadt. Aber wohl eher auf dem Land, da ganz in der Nähe ein Bauernhof war, der im Sommer den Geruch von Gülle verbreitete. Ich hasste ihn, aber wer hasste ihn nicht. Doch trotzdem gehörte er für mich dazu. Wenn ich aus dem Haus ging und ich mich bei dem unangenehmen Geruch in den Ärmeln meiner leichten Jacke versteckte, war für mich der Sommer gekommen... .
»Pass' doch auf, das ist hier der Fahrradweg!«, fluchte ich einem roten Pkw hinterher, der die Markierung auf der Straße nicht beachtete und viel zu dicht an mich heran fuhr. Hier gab es keine Bordsteine. Dafür wohnten wir doch zu weit auswärts. So fuhr ich mit meinem klapprigen Fahrrad ganz dicht rechts, um jeglichen genervten Autofahrern aus dem Weg zu gehen.
Auf der rechten Seite war kahles Feld. Im Sommer wurde hier von Hafer bis Mais alles angebaut. Nur im Winter machten die Bauern eine Pause und die Landschaft sah karg aus. Nur ein paar Grasspiere gab es noch, die zum Teil auf die Straße ragten. Manche waren platt gefahren, vermutlich, weil ein Fahrradfahrer auf die Grasfläche ausweichen musste, um einen schwerwiegenden Unfall zu vermeiden. Manche standen aber noch senkrecht in der Luft und, als ich ganz dicht ran fuhr, - zwar noch auf der Straße, aber am direkten Übergang zum Feld - konnte ich hören, wie das Gras in meine Speichen hineinragte. Es klackte immer, wenn es sich von einer Speiche zur anderen vorarbeitete.
Ich blickte auf mein Handy, um nach der Uhrzeit zu schauen. Thomas hatte mir geschrieben. Ich war ganz überrascht, da er mich fragte, ob ich Lust hätte, mit ihm heute was zu machen. 'Ins Café oder Kino oder so'. Unter Wanken schrieb ich zurück. Ich tippte nur mit rechts, da ich mit der anderen Hand am Lenker versuchte, dem Straßenverlauf zu folgen. Ja. Café klingt gut. Ich steckte es weg, um mich wieder voll auf meine Fahrradfahrt zu konzentrieren und ärgerte mich, weil ich nicht auf die Uhr geschaut hatte. So holte ich es noch einmal heraus. Es war sieben-Uhr-fünfzig und ich dachte, dass ich es schaffen müsste.
Es war ein milder Winter dieses Jahr, sodass ich über mein schwarzes Kostüm nur eine leichte Sommerjacke trug. Erst jetzt sah ich, wie schön es eigentlich war. Es war zwar nur eine schlichte Hose, mit einem Top und einem Jackett, aber ich dankte Mama für ihren guten Geschmack. Es hätte auch eins in orange werden können. Das hätte ich Mama auch zugetraut, da sie der Meinung war, dass sie meine doch grau belastete Kleidung etwas aufpeppen müsste. Aber sie hatte es nicht getan und dafür dankte ich ihr.
Die Hose flatterte etwas auf und ein kurzer, kühler Luftzug strich an meinen Beinen entlang, bis er sich meiner Temperatur angepasst hatte und ich ihn nicht mehr spürte. Es waren zwölf Grad und obwohl kleine Sonnenstrahlen auf die Welt spähten und für einen kurzen Augenblick meine Haut erwärmten, war mein Gesicht kühl. Ich merkte es daran, dass ich den kalten Fahrtwind kaum noch als kalt empfand.
Als ich die letzte Kreuzung befahren hatte und in die kleine Nebenstraße abgebogen war, war ich da. Durch den wenigen Verkehr hatte ich noch vier Minuten und konnte die Umgebung etwas genauer inspizieren.
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Einen Augenblick für immer
Teen FictionEin Vater, ein Kind, eine Krankheit - und Linnea. Linnea ist faul, total perspektivlos und weiß nicht, wozu man sie überhaupt gebrauchen kann. Und das sollte sich nun ausgerechnet durch ein langweiliges Praktikum bei einer Kunstausstellung ändern? ...