Die Schneekönigin

Der Brief

Die Prinzessin öffnete den Umschlag und zog ein Blatt Papier heraus.

Fieberhaft überflog sie die Zeilen, die ihr Vater geschrieben hatte, bevor er in den Krieg gezogen war.

„Geliebte Tochter!

Zuerst einmal musst du wissen, dass ich sehr stolz auf dich bin. Das Volk von Alba, der Rat und auch ich selbst könnten uns keine bessere Königin vorstellen. Wenn es jemand schaffen kann, dann du. Sicher fragst du dich, warum ich dir diesen Brief hinterlasse- wenn du ihn liest, bin ich wahrscheinlich tot, denn ich glaube nicht, dass du vorher hierher kommen würdest. Ich will, dass du weißt, dass ich an dich und deine Fähigkeiten als Führerin glaube. Vielleicht fühlst du dich manchmal alleine, das geht jedem Herrscher so. Mein Rat lautet deshalb: suche dir einen Freund, dem du bedingungs losvertrauen kannst und der dir bei schwierigen Entscheidungen zur Seite steht.

Dein dich liebender Vater.

P.S.: Sicher warst du verwundert, als du die Bilder deiner Mutter sahst. Es tut mir sehr Leid, dass ich dir nie davon erzählt habe, doch die Erinnerung an sie war zu schmerzvoll."

Die Eisprinzessin spürte, wie ihre Augen feucht wurden, doch sie konnte nichts dagegen tun. Eine Träne rollte ihre Wange hinunter und es folgten weitere. Mit ihnen brach alles aus ihr heraus, die furchtbare Einsamkeit, die verdrängte Angst, die unterdrückte Wut. Der Rabe ließ sich auf ihrer Schulter nieder und krächzte leise. Aufgewühlt schluchzend strich sie ihm über die Flügel und er drückte sein warmes, seidiges Gefieder tröstend an ihre Wange. „Okay", flüsterte sie, „Alles okay." Die Eisprinzessin schloss kurz die Augen, um sich zu sammeln, und atmete tief durch, dann drückte sie den Brief fest an ihre Brust und verließ, mit dem Raben auf der Schulter, die Gemächer ihrer Mutter. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte sie sich nicht mehr einsam.