Last Train

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„Guten Abend, Ladies und Gentlemen, hier spricht ihr Zugbegleiter Joe Speleers. Ich heiße Sie Willkommen im Zug 2359 der Alpha Trax nach Eastbourne."

Tatsächlich schaffte Joe es, all die Städte auf ihrer Route aufzuzählen. Zwar klang seine Stimme gezwungen, allerdings fehlte es ihm nicht an der Freundlichkeit, die man von ihm erwarten würde. Doch bei seinem letzten Satz konnte selbst er die leichte Schärfe, welche sich in seinen Unterton eingeschlichen hatte, nicht länger unterdrücken. Weil er einfach wusste, dass ihm niemand zugehört hatte. Mit Sicherheit musste er gleich sowieso jeden Einzelnen noch einmal ansprechen.

„Halten Sie bitte ihre Fahrkarten zur Kontrolle bereit. Danke!", das letzte Wort klang müde. Gepresst. Am liebsten wäre er einfach wieder aus dem Zug gesprungen. Doch das konnte er nicht.

Joe versuchte nicht einmal ein falsches Lächeln auf sein Gesicht zu schrauben, als er das erste Abteil betrat.

Er hasste diesen Job nicht, nein, er verabscheute ihn. Als Kind hatte er immer von Zügen geträumt. Hatte alles, was damit zu tun hatte, gesammelt. Sogar einen Pyjama mit Zügen darauf hatte ihm seine Mutter einmal zu Weihnachten geschenkt. Eines seiner liebsten Geschenke, als er klein gewesen war. Selbstverständlich besaß er eine ordentliche Sammlung Zugmodelle. Jetzt würde er am liebsten mit dem ganzen Zeug ein hübsches Lagerfeuer machen.

Stattdessen verstaubten die kleinen Züge auf dem Dachboden und anstatt des Zugmotivs trug er jetzt Socken mit Schädelköpfen. Was hoffentlich nicht heißen würde, dass die Zukunft bedeutete, er müsse Beelzebubs Partner in der Hölle werden. Seine Schicht hatte erst angefangen und er konnte den Feierabend kaum erwarten. Verdienten Feierabend, denn genau genommen wäre er längst zu Hause, hätte ihm sein Supervisor nicht auch noch die Schicht eines kranken Kollegen aufgezwungen.

„Die Fahrkarte, bitte", ratterte Joe, wie eine sich ewig drehende Schallplatte monoton seinen Text herunter.

Immerhin hatten die ersten Fahrgäste die Fahrkarten griffbereit. Vielleicht würde diese Nacht doch nicht so schlimm werden. Als er sich umdrehte, hörte er die jungen Frauen kichern. Er spürte ihre Blicke regelrecht in seinem Rücken und auf seinem Arsch. Das Augenverdrehen ersparte er sich diesmal und kniff die Lippen zu einem Strich zusammen, während er weiter ging. Na, immerhin fand ihn überhaupt jemand attraktiv. Auch wenn es drei alleinstehende Frauen in der Menopause waren.

Glücklicherweise waren zu dieser gottlosen Stunde nur noch wenige Fahrgäste im Zug. Zu viele jedoch, um sich nach dem zwölften Gast, der erst seine Fahrkarte hervorkramen musste oder den Joe aus einem Koma aufwecken musste, nicht genervt zu fühlen.

Meistens wurde er ignoriert. Joe hatte das Gefühl, dass die Leute selbst dem Staub auf ihrem Mobiliar mehr Aufmerksamkeit schenkten, als einem atmenden Wesen. Manchmal wurde er auch mitleidig belächelt. Nicht so angenehm, aber wenigstens tat es nicht weh. Es gab auch welche, die sich fürchterlich über das Bußgeld aufregten, das Joe ihnen aufzwang, weil sie keine Fahrkarte hatten. Er hasste es. Deswegen versuchte er diese Situationen weitgehend zu vermeiden.

Ununterbrochen quasselte das junge Mädchen in ihr Handy, während Joe sie mehrmals zum Zeigen ihrer Fahrkarte aufforderte. Selbst als er seine Stimme hob, ließ sie sich nur wenig stören. Joe hätte schwören können, dass sie sogar die Lautstärke der Kopfhörer, die in einem ihrer Ohren steckte, aufdrehte. Wie konnte man bloß telefonieren und gleichzeitig Musik hören?

„Ihre Fahrkarte, Miss", knurrte Joe und sein Lächeln wirkte wie eine Grimasse aus einem Horrorfilm. „Ansonsten bezahlen sie ein Bußgeld und ich lasse Sie wegen Schwarzfahrens anzeigen."

Genervt verdrehte sie die Augen. Warum war das ein Problem? Er machte doch auch nur seinen Job.

„Warte mal", lallte sie gelangweilt in den Hörer, „hier ist so'n Typ, der nervt gewaltig." Sie kramte nach ihrer Karte, streckte sie Joe fast ins Gesicht und redete weiter, als hätte es keine Unterbrechung gegeben. Intensiv betrachtete Joe das kleine Stück Papier zwischen seinen Fingern. So schrecklich müsste der Job nicht sein, wenn die Fahrgäste nur nicht so unkooperativ wären. Weil er zu lange auf ihre Karte gestarrt hatte - er war so verflucht müde und musste mehrmals blinzeln, damit das Bild vor seinen Augen wieder scharf stellte - behauptete sie doch tatsächlich, er würde ihr auf die Brust glotzen.

Howl (ManxMan) #allaboutyourbook17Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt