Kapitel 1 And One

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Ich wache verschwitzt auf und sehe mich um. Es ist dunkel. Mein Blick schweift durch mein Zimmer, bis er an meinem Wecker hängen bleibt. 3:56 Uhr. Na toll. Es ist noch genau dasselbe, wie zuhause. Nur, dass wir jetzt in London leben.

Hallo, mein Name ist Alice, meine Mum und mein Bruder nennen mich auch Ali, aber ich hab das nicht so gerne. Wir sind gestern von unsrer 'geliebten' Heimat Mullingar, Irland, hierher nach London gezogen und das alles hat einen ganz bestimmten Grund.

Es hat mit meiner Mum und meinem Dad zu tun. Die meisten werden jetzt wahrscheinlich denken, dass es sich hier um eine einfache Scheidung handelt, aber da muss ich euch leider enttäuschen. Mein Dad hat so viel Scheiße gebaut, dass ich, wenn ich es aufzählen würde, einen ganzen Tag damit beschäftigt wäre.

Doch der Hauptgrund, dass wir endlich abgehauen sind, ist, dass er mich und meine Mum geschlagen hat und ich deshalb, na ja, regelmäßig eine bestimmte Art von Alpträumen bekommen habe, schlecht in der Schule wurde und mich völlig von der Außenwelt abgekapselt habe. Yay.

Diese Art von Alpträumen nennt man auch Schlafparalyse. Da befindet man sich quasi in Trance, in einem Zustand zwischen Wachsein und schlafen. Und das ist schrecklich, das sage ich euch. Meistens habe ich das Gefühl, ich ersticke. Das fühlt sich an, als läge ich wach in meinem Bett und kriege auf einmal keine Luft mehr. Ich will schreien, aber ich kann nicht, ich habe absolut keine Kontrolle mehr über meinen Körper und kann mich nicht rühren.

Man kann den Alptraum auch nicht einfach wieder abschalten. Irgendwann hört er dann von selbst auf und ich setze mich meistens verschwitzt und schwer atmend, wie jetzt auch, in meinem Bett auf und rege mich über mein Leben auf. Tatsächlich hat jeder Zweite eine Schlafparalyse im Laufe seines Lebens. Ich habe sie in letzter Zeit so ziemlich jede Nacht.

Ich lege mich wieder in mein Bett und versuche meinen versteiften Körper in eine einigermaßen bequeme Haltung zu bringen. Mein Atem fängt wieder an, normal zu werden und ich schließe meine Augen, nachdem ich mich endgültig beruhigt habe. Morgen ist mein erster Schultag. Da muss ich doch ausgeschlafen sein. Hehe.

Als ich die Augen zum zweiten Mal öffne, ist mein Zimmer glücklicherweise mit Licht durchflutet und mein Wecker gibt ein wunderbar ohrenbetäubendes Geräusch von sich, was mich nach oben schrecken und mit der Faust auf den Ausschaltknopf schlagen lässt.

Ich trotte langsam zu einem meiner noch nicht ausgepackten Koffer und sehe mir meine Klamotten an. Sollte ich mich heute besonders schick machen? Um einen 'guten Eindruck' zu machen? Ich zucke die Schultern und greife einmal blind in meinen Koffer, bis ich eine dunkelgraue Hose und ein schwarzes T-Shirt mit Aufdruck in der Hand habe. Meinetwegen. Schnell schlüpfe ich in meine bequemen Chucks, schminke mich und putze mir die Zähne.

Am Frühstückstisch herrscht Stille. Mein Bruder Dexter sitzt meiner Mum gegenüber und beißt lustlos in ein trockenes Brötchen, bis er meine Anwesenheit bemerkt und die Brauen hebt. "Originelles Outfit, Ali.", sagt er. Ich zucke die Achseln und setze mich zu den beiden.

Meine Mum mustert mich von der Seite. "Wie war die erste Nacht in deinem neuen Zimmer, Schatz?" Sie lächelt mich an und ich verziehe das Gesicht. "Sie war ganz toll, bis ich dann heute Nacht um vier aufgewacht bin und gedacht habe, ich muss sterben."

Ich spüre, wie Dex mich besorgt ansieht und auch meine Mum sieht aus, als breche sie gleich in Tränen aus. Ich verdrehe die Augen.

"Mal ehrlich Leute, wir sind erst seit einer Nacht hier und ihr erwartet gleich, dass ich, oh Wunder, wieder gut schlafen kann? So läuft das nun mal nicht."

Wieder Stille. Ich trinke einen Schluck Orangensaft, packe mir mein Frühstück für die Schule ein und gehe wortlos in mein Zimmer, um meine Tasche zu packen. Dexter ist ein Jahr älter als ich. Er ist achtzehn, ich erst siebzehn.

Als ich fertig bin, sehe ich noch einmal in den Spiegel. Eigentlich sehe ich ganz okay aus, es ist mir aber auch egal. Ich will hier keine Freunde finden, ich will einfach meinen Schulabschluss hinter mich bringen und dann abhauen, mein eigenes Ding machen. Hauptsache weg von meiner Familie, denn zur Zeit erinnert mich einfach alles an meinen Vater und wie er mich gewürgt, seine Zigaretten an mir ausgedrückt, mich geohrfeigt und einfach all seine Aggressionen an mir ausgelassen hat.

Der Schulbus bringt meinen Bruder und mich, traurigerweise, sicher und pünktlich zur Schule und ich sehe mir das riesige, großkotzige Gebäude an. Alles hier lässt auf eine normale, unintressante Highschool mit oberflächlichen Menschen deuten. Ich seufze und beschließe, mir das Gebäude von innen anzusehen. Gefolgt von Dex.

Innen sieht es beinahe wie in Mullingar aus. Jedenfalls die Schließfächer. Ich atme tief durch und balle eine Faust. Dann spüre ich eine Hand an meiner Schulter. "Wir sind jetzt sicher, Ali", höre ich Dexter neben mir sagen und es beruhigt mich ein bisschen. Ich nicke ihm zu und lächle unaufrichtig. Er nickt ebenfalls. "Und wie sollen wir jetzt das Sekretariat finden?", frage ich und sehe mich verzweifelt um. Räume über Räume und keine Schilder. Praktisch.

Da Dex auch keinen Plan hat, beschließe ich, einen dieser unterbelichteten Idioten, die hier sinnlos herumlaufen und eh nichts zu tun haben, zu fragen, wo wir hin müssen. Ein Mädchen mit langen blonden Haaren, das zumindest einigermaßen intelligent aussieht, kann uns schließlich den Weg beschreiben und das Ganze so, dass wir es auch finden.

Nachdem wir unsere Anmeldung an der Schule mit unhöflichen und dauergenervten Sekretärinnen geklärt haben, stehen Dexter und ich wieder im Flur. "Wo hast du jetzt?", fragt er und sieht auf seinen frischgedruckten Stundenplan, der uns eben lieblos in die Hand gedrückt wurde. Ich kneife die Augen zusammen und werfe einen Blick auf meinen Zettel. "Raum 109. Ich glaube, das ist im ersten Stock. Und du?" Dexter zeigt ebenfalls nach oben. "Raum 426, ach du Scheiße." Ich lache und gehe auf die Treppen zu. "Na dann, gute Reise!" Er lacht auch und winkt mir zum Abschied. Ich drehe mich noch einmal um und gehe dann Schritt für Schritt auf mein Verderben zu.

Schon Sekunden nachdem ich geklopft habe, wird die Tür von meinem künftigen Klassenraum geöffnet und eine rothaarige Frau mittleren Alters mit einer tiefsitzenden Brille sieht mich fragend an. Ich räuspere mich und halte ihr meinen Zettel unter die Nase. "Hi. Ich bin Alice Walker. Uhm .. ich glaube, ich bin in Ihrer Klasse." Der verwirrte Gesichtsausdruck der kurzhaarigen Frau verwandelt sich schlagartig in ein herzliches Lächeln, mit dem sie mich schließlich auch in den Raum bittet.

"Ich bin Miss Blair. Du kannst dir gerne einen freien Platz aussuchen, aber stell dich bitte erstmal vor der Klasse vor." Ich nicke und stelle mich vor die Tafel. Langsam lasse ich meinen Blick durch die Klasse schweifen. In der ersten Reihe sitzt kaum jemand, nur ein Mädchen, das anscheinend eine starke Sehschwäche hat und dicke Brillengläser trägt und ein ausländischer Junge, dessen Grinsen dem der Katze aus Alice im Wunderland Konkurrenz macht. Alice. Welch Ironie. In der zweiten Reihe fällt mir sofort das Mädchen mit den blonden Haaren auf, das Dexter und mir den Weg zum Sekretariat beschrieben hat. Und in der letzten Reihe sitzt eine Gruppe von Jungs, die sich allem Anschein nach gerade ihre Kippen für die Pause drehen. Wenn sie meinen.

"Ich bin Alice Walker, siebzehn Jahre alt. Ich komme aus Mullingar und bin gestern hergezogen."

Miss Blair lächelt noch immer und gibt mir ein Zeichen, dass ich mich setzen soll. Das blonde Mädchen winkt mir und zeigt auf den freien Platz neben sich. Ich beschließe, mich neben sie zu setzen. Warum auch nicht.

Die Stunde zieht sich wie ein Kaugummi und ich bin mehr als erleichtert, als endlich das Klingeln ertönt und die nächste Stunde anfängt. Doch der Lehrer lässt auf sich warten. Ich sehe das Mädchen neben mir aus dem Augenwinkel lächeln und drehe mich zu ihr um.

"Ich bin Molly.", sagt sie und hält mir ihre Hand hin. Eigentlich wollte ich mir hier keine Freunde suchen, aber ich schätze, sowas passiert automatisch. Und Molly scheint nett zu sein und sich hier alleine durchzuschlagen ist glaube ich Selbstmord.

Ich schüttle ihre Hand ich erwidere ihr Lächeln. "Danke, dass du so nett bist, Molly. Normalerweise mag doch keiner die Neuen", antworte ich. Molly schüttelt den Kopf. "Quatsch. Aber ich weiß, dass es am Anfang schwer ist, ich bin letztes Jahr neu dazu gekommen."

Ich nicke. Molly ist also auch neu. Ich will gerade etwas erwidern, als der Lehrer plötzlich den Raum betritt und alles still wird. Molly beugt sich schnell zu mir. "Sitzen wir beim Lunch zusammen?", fragt sie und ich nicke erneut.

My Way (Harry Styles FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt