Einhundertundelf Tage

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Einhundertundelftage.
Klingt das lang?
Das sind achtundzwanzig Wochen.
Zweitausendsechshundertvierundsechzig Stunden.
Einhundertneunundfünfzigtausendachthundertvierzig Minuten.
Und neunmillionenfünfhundertneunzigtausendvierhundert Sekunden.
Zahlen sind so kalt.
Was drücken sie schon aus?
Wenn mich jemand fragt "Wie lange bist du schon so?" und ich antworte "Einhundertundelf Tage"- was heißt das denn dann?
An dieser Stelle des Gespräches dürfte ich keine Pause machen. Ich dürfte nicht zulassen, dass man mir einen verständnislosen Blick zuwirft, dass man mir hilflos die Schulter tätschelt, mit gelangweilter Stimme Das wird schon wieder säuselt, ungeduldig und genervt, weil dieses Mädchen mit den farblosblonden Haaren offensichtlich seit einhundertundelf Tagen in selbstsüchtigem Selbstmitleid badet.
Ich müsste endlich den Mund aufmachen, ich müsste mit meinen müden Augen dem Blick standhalten, ich müsste genug Luft holen um zu sagen:
"Ich bin seit einhundertundelf Tagen so. Ich kann seit einhundertundelf Tagen nicht mehr richtig essen, schlafen oder reden. Ich liege seit einhundertundelf Tagen in meinem Bett, jedenfalls, wenn meine Mutter mich nicht am Handgelenk packt und in die Schule zerrt, oder irgendwo anders hin, wo ich "unter Leute" kommen soll. Ich würde seit einhundertundelf Tagen weinen, hätte ich nicht schon all meine Tränen in den ersten acht Tagen vergossen und wüsste ich, wo man neue Tränen herbekommt. Mein Körper produziert nämlich keine Tränen mehr, offensichtlich ist er zu schwach oder hat einfach keine Lust, was ich aber absolut verstehen kann, denn ich bin auch für alles zu schwach und habe zu nichts Lust. Und ich brauche auch gar keine neuen Tränen. Ich brauche eigentlich gar nichts. Was braucht man schon im Leben? Die Frage stelle ich mir in letzter Zeit ständig, immer wenn ich nicht schlafen kann. Schlafen ist eigentlich das, was ich im Moment am liebsten machen würde, aber ich kann einfach nicht- ich liege nächtelang wach, ich meine wirklich wach. Mein Körper scheint gar keinen Schlaf zu brauchen, denn ich würde ja schlafen, wenn ich könnte- und da sind wir wieder bei der Frage, was brauchen wir schon im Leben?, denn offensichtlich brauche ich weder Schlaf, noch Essen. Ich esse nämlich nicht mehr, weißt du. Ich esse manchmal, wenn meine Mutter mir Essen bringt, aber das bekomme ich kaum mit. Ich tue es einfach so, automatisch. Ich schmecke es nicht. Egal, was es ist. Deswegen weiß ich nicht, wann ich das letzte Mal etwas gegessen habe. Ich spüre aber keinen Hunger. Also brauche ich wohl auch kein Essen zum Leben.
Aber wenn man im Leben nichts braucht, braucht man dann überhaupt das Leben?"

Und dann müsste ich eine Pause machen, um zu sehen, wie sich der Blick von verständnisvoll zu qualvoll geändert hat, wie mein Gegenüber hiflos die Hände ringt, innerlich schreit Hör auf damit, ich will das nicht hören, wie die Hände dann irgendwann nach meinen greifen und sie festhalten wie einen ekeligen, nassen Schwamm.
Betretenes Schweigen also, aber ich würde es unterbrechen, weil ich niemanden quälen will, ich würde das Gespräch beenden, aus reiner Nächstenliebe. "So bin ich seit Einhundertundelf Tagen. Und so werde ich auch bleiben."
Aber so etwas würde ich niemals sagen.
Ich komme nie über das Einhundertundelf Tage hinaus.
Und das ist auch gut so.
Einhundertundelf Tage sagt gar nichts.
Genau wie ich.
Seit einhundertundelf Tagen.

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