fünf

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Ich rannte.
So schnell wie noch nie zuvor in meinem Leben.
Ich spürte nichts mehr. Weder den Regen, der mir vom Wind ins Gesicht gepeitscht wurde, noch meine immer schwerer werdenden Beine oder meine klitschnasse Kleidung. Nicht einmal Kälte.
Nur das Gefühl vom Wegrennen.
Es fühlte sich sehr gut an, obwohl ich nicht einmal wusste, wohin ich eigentlich rannte.
Ich rannte über Straßen, ohne nach Autos zu gucken und wurde zwei Mal fast überfahren. Ich rempelte Menschen an, ohne mich zu entschuldigen. Ich knickte mit meinem Knöchel um, blieb aber nicht stehen. Ich rannte einfach weiter.
Irgendwann wurden die Häuser und Straßen weniger, die Landschaft ländlicher. Nassgeregnete Felder und Wiesen, neben mir tauchte ein Waldrand auf.
Ohne nachzudenken rannte ich immer tiefer in den Wald hinein.
Mit jedem weiteren Schritt in die Dunkelheit fühlte mein schweres Herz sich leichter an. Das erstickte Gefühl in meiner Brust verschwand. Ich schaffte es endlich wieder, zu atmen.
Endlich allein.
Irgendwann spürte ich die Seitenstiche, meinen schmerzenden Knöchel, meine erschöpften Beine- und blieb stehen.
Ich musste kilometerweit gerannt sein. Ich hatte keine Ahnung, wo ich war. Ich stand inmitten einem Meer aus riesigen dunklen Bäumen.
Trotzdem fühlte ich mich gut.
Ich war da, wo ich hinwollte; ich war weg.
Doch vor meinen Gedanken konnte ich nicht fliehen.
Lous Stimme hallte in meinem Kopf wieder.
"Er hat gesagt, dass er mich liebt."
"Er hat gesagt, dass er mich liebt."
"Er hat gesagt, dass er mich liebt."
Verzweifelt presste ich mir meine Hände aufs Gesicht, schloss die Augen.
Aber Lou war noch da. Ihr perfektes Gesicht genau vor meinem, ihre Augen blitzten, ihr wunderschön geformter Mund sagte immer wieder ein und den selben Satz.
"Er hat gesagt, dass er mich liebt."
Dann sah ich Marlon.
Zum ersten Mal seit so langer Zeit sah ich wieder Marlons Gesicht, mit all den Einzelheiten.
Seine olivefarbenen Augen, die mehr Wärme ausstrahlten als der sonnigste Sommertag. Die kleinen Grübchen, die man immer nur sah, wenn er sein strahlendes Lächeln zeigte. Das halbmondförmige Muttermal auf seinem rechten Wangenknochen. Der durchdringende Blick, der mir immer zeigte, dass er genau wusste, was ich dachte. Marlon kannte mich. Besser als jeder andere Mensch auf der Welt.
Das Schlimmste war, dass ich das Gleiche von mir gedacht hatte.
Ich dachte, ich kannte ihn auch.
Ich dachte, ich wusste alles über ihn.
Ich dachte, wir erzählten uns alles.
Ich vertraute ihm bedingungslos.
Vielleicht war das das Schlimmste an der ganzen Sache. Dass er mein Vertrauen gebrochen hatte.
Er hatte es nicht nur gebrochen: er hatte es gebrochen und mir weggenommen. Ich hatte kein Vertrauen mehr. In Niemanden.
Aber, nein.
Der Vertrauensbruch war nicht das Schlimmste.
Dass er sich über zweite Monate lang hinter meinem Rücken mit Lou getroffen, sie geküsst hatte und vielleicht sogar noch mehr war nicht das Schlimmste.
Das Schlimmste war, dass ich keine Möglichkeit hatte mit ihm darüber zu reden.
Ich hatte es geahnt. Doch gesagt hatte ich nichts. Ich wollte auf den richtigen Moment warten.
Ein Moment, der niemals gekommen war.
Und nun war Marlon tot. Ist mit seinem Auto von der Brücke gestürzt und mit ihm mein Vertrauen. Mein Vertrauen in ihn, mein Vertrauen in die Menschen, in die Liebe, in das Leben.
Ich liebte nicht mehr.
Ich lebte nicht mal mehr.
Nur noch mein Körper lebte.
Innerlich war ich tot.

Die Bilder in meinem Kopf drehten sich wie ein Karussel. Ich sah Marlon und mich, wie wir uns küssten, Marlon und Lou, wie sie sich küssten. Wie er mir sagte, dass er mich liebte, wie er ihr sagte, dass er sie liebte.
Ich schrie. Und ich rannte wieder. Ich stolperte. Ich fiel. Knallte auf dem kalten Waldboden.
Alles wurde schwarz.

Als ich wieder zu mir kam, spürte ich eine warme Hand auf meiner Wange.

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