eins

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before paradise

"Lou hat heute angerufen."
"Mh."
"Interessiert es dich nicht, was sie gesagt hat?"
"Mhhh."
Ich machte eine vage Kopfbewegung.
Im Grunde wusste ich es doch schon.
Lou rief etwa alle zwei Wochen mal an. Erkundigte sich nach meinem Gemütszustand, gab ein paar zarte Seufzer von sich, legte nach einem viertelstündigen Telefonat mit meiner Mutter wieder auf und lebte mit bereinigtem Gewissen ihr zuckersüßes Leben weiter.
Meine Mutter runzelte die Stirn. "Ich finde es nett, dass sie immer noch anruft. Obwohl du..."
Dich nie bei ihr meldest?
Dich weigerst, mit ihr zu reden?
Sie das letzte Mal als ihr euch gesehen habt hysterisch zusammengeschrien hast?
Ich sagte gar nichts. Malte Vierecke an das staubige Wohnzimmerfenster und schwieg.
"Jedenfalls..." Mom klang schwach und angestrengt, so wie jedes Mal wenn sie mit mir redete. Als würden unsere Gespräche sie furchtbar anstrengen.
Doch dieses Mal war ihre Stimme noch belegter.
Sie redete nicht weiter.
Ich hob meinen Kopf von der kalten Fensterscheibe und drehte mich zu ihr um.
Natürlich hatte sie nicht wirklich etwas Wichtiges zu sagen.
Dachte ich zumindest, als sie mit dem Staubsauger in der Hand neben unserem Bücherregal stand und mich anstarrte.
Ich wollte mich schon wieder abwenden, als sie erstickt hervorpresste: "Lou zieht weg. In einer Woche schon."
Mitten in meiner Bewegung hielt ich inne. Mein Blick war jetzt auf unsere kalte weiße Wohnzimmerwand gerichtet. Sie verschwamm vor meinem inneren Auge, während Moms Satz sich in meinem Kopf drehte.
Lou zieht weg.
Ich sog jedes einzelne Wort auf, hörte es immer wieder, bis ich irgendwann verstand, was Mom gesagt hatte.
Und bevor ich irgendetwas anderes tun konnte sagte ich: "Schön."
Mom fiel der Staubsauger aus der Hand.
Er krachte auf das dunkle Parkett.
Nicht schlimm.
War eh schon zerkratzt.
"Du findest das schön."
Ich sprang von der Fensterbank, wollte mich an ihr vorbei aus dem Wohnzimmer schieben, doch plötzlich packte sie mein Handgelenk, hielt mich fest.
"DU FINDEST DAS SCHÖN?!"
Ich riskierte nur einen kurzen Blick in ihre dunklen Augen, die kurz davor waren in Tränen auszubrechen.
Ich konnte ihre Gedanken lesen.
Meine Tochter ist ein gefühlskaltes Monster geworden.
Lou war die aufrichtigste Person, die sie in ihrem Leben je hatte.
Sie hat Lou so furchtbar behandelt, und trotzdem ist sie geblieben.
Und nun fällt ihr nichts anderes dazu ein als "Schön".
"Es ist mir egal!", schrie ich, obwohl ich wusste, dass es die Situation kein Stück verbesserte.
"ES DARF DIR ABER NICHT EGAL SEIN!" Verzweifelt schüttelte sie meine Schultern. Ich leistete keinen Widerstand. "Lou ist..." Sie brach den Satz ab. Fasste sich wieder.
Ich weiß nicht, was sie sagen wollte.
Die einzige Freundin, die du noch hast?
Ich hätte gelacht. Wirklich, ich hätte gelacht.
Sie ließ mich los, atmete tief durch. "Lou macht eine Abschlussfeier. Diesen Samstag. Und du wirst hingehen."
Jetzt lachte ich wirklich. Ich prustete los, so abprubt, dass ich fast keine Luft mehr bekam.
Ich hatte schon lange nicht mehr gelacht, mein Körper war nicht darauf vorbereitet.
Es verwandelte sich in ein dumpfes Husten.
Mom ignorierte es.
"Du wirst hingehen", wiederholte sie.
Ich war bereits auf der Treppe.
Noch ein paar Meter bis zu meinem Zimmer.
Dem einzigen Ort, an dem ich es aushielt.
Dunkel und stickig, aber wenigstens leer.
Keine Menschen. Nur ich.
"Du wirst hingehen!", schrie sie und für einen Moment glaubte ich, dass sie mir hinterherrennen würde.
Auf der letzten Stufe blieb ich stehen.
Hörte, wie die Wohnzimmertür hinter ihr zuknallte.
Sie sagte es noch ein paar Mal.
Du wirst hingehen.
Aber es verschwamm in meinen Ohren mit dem Satz, den sie davor gesagt hatte. Lou zieht weg.

Als ich in meinem Bett lag und mich von der Dunkelheit erdrücken ließ, glaubte ich, mir das Ganze nur eingebildet zu haben.

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