Mittwoch, 02.04.1879

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James' Lippen wanderten meinen Hals entlang, liebkosten meine Haut und brachten mich dazu, all das Schlechte in meinem Leben zu vergessen. Ich spürte, wie er einen Augenblick an der Stelle verweilte, wo meine Halsschlagader lag. Für diesen einen Moment hielt ich kurz den Atem an, denn ich fürchtete, ihn würde ein Verlangen überkommen und es könnte so weit kommen, dass er mich an dieser offensichtlichen Stelle biss.

Dazu kam es aber nicht. Stattdessen löste er sich wieder von mir, nahm mein Gesicht in seine Hände und sah mir tief in die Augen. Er sagte nichts und ich schwieg ebenfalls.

Als er mein Gesicht wieder losließ, legte er eine Hand an meine Taille, die andere wanderte meinen Rücken, wo ich spürte, wie an einem der Knöpfe meines Kleides herumnestelte.

„Was tust du da?", wisperte ich, unfähig es laut auszusprechen.

„Ich probiere etwas aus", raunte er zurück.

Ich hielt ihn nicht ab, genoss seine Berührungen, seine Nähe, obwohl ich mich gleichzeitig davor fürchtete, was als nächstes kommen würde. Was stimmte nur nicht mit mir? Was war mit mir geschehen, dass ich so etwas zuließ und es mir auch noch gefiel?

Langsam schob er mein Kleid von meinen Schultern, legte meine weiße Haut darunter frei. Konnte ich das wirklich zulassen? Die Hand, die an meiner Taille lag, wanderte langsam nach oben...

Ich fuhr aus dem Schlaf und war innerhalb einer Sekunde hellwach. Der Traum klang in meinem Kopf nach wie eine frische Erinnerung, als wäre es gerade wirklich geschehen.

Ich setzte mich auf, strich mir die Haare aus dem Gesicht und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Doch es spielte keine Rolle, was ich versuchte. Immer wieder driftete ich zu James und zu dem ab, was ich gerade von ihm geträumt hatte. Es war fast so, als könnte ich noch seine Finger auf meiner Haut spüren, die mich liebkosten.

Durch einen Spalt zwischen meinen Vorhängen fiel Tageslicht herein. Der Morgen war also schon da und es gab keinen Grund für mich, wieder in den Schlaf zu finden. Ich stand auf, hüllte mich in meinen Morgenmantel und zog den Vorhang ganz beiseite.

Mein Fenster ging nach vorn zur Straße hinaus und ich betrachtete eine Weile das Treiben auf der Straße. Die ersten Menschen, die sich hektisch ihren Weg suchten, die Kutschen, die gerade noch flüssig durch die Straßen kamen, wo sie in einer halben Stunde damit rechnen mussten, ständig anzuhalten und sich im Warten erproben zu müssen.

Mein Morgen würde weniger hektisch verlaufen. Ich würde mich ankleiden, frühstücken, mir eine Beschäftigung für den Vormittag suchen. Ich rechnete nicht damit, dass Annabeth mich spontan erneut in die beengten Gassen des East Ends entführen würde, denn dafür war es noch zu früh.

Das einzig außergewöhnliche am heutigen Tag würde sein, dass James erneut von meinem Blut trank, wie er es an jedem Mittwoch tat. Ich war Meinung, ich müsste mich mittlerweile daran gewöhnt haben, aber noch immer wollte ich es am liebsten aus meinem Kopf verdrängen, die schrecklichen Gedanken beiseite stoßen und nur den James aus meinem Traum vor mir haben.

Vielleicht war es ja wirklich das, was ich wollte. Es konnte doch sein, dass ich unsere Beziehung auf diese Art und Weise vertiefen wollte. Es lag in der Natur der Menschen, dies zu wollen und ich glaubte, James zu lieben.

Dennoch würde ich nie so weit gehen. Nicht, solange wir beide nicht verheiratet waren. So stark der Drang danach auch sein mochte, ich hatte es mir geschworen und ich wollte meine Unschuld nicht an einen Mann verschwenden, den ich ohnehin nicht haben konnte.

Vielleicht war der Traum einfach nur bedeutungslos, die Fantasie eines Mädchens und nichts weiter. Es war am besten, wenn ich so davon dachte.

Ein Klopfen riss mich aus meinen Gedanken und ich vermutete, dass es James war. Würde ich ihm mit diesen Gedanken, die mich gerade so sehr beherrschen überhaupt unter die Augen treten können?

Zögerlich ging ich zur Tür und öffnete diese, aber es waren nicht James' blonde Haare, die ich da vor mir sah. Es war Annabeth, die wie ich noch im Morgenmantel war, die Haare fahrig zu einem Zopf geflochten, einen unheilvolle Miene aufgesetzt.

„Ist etwas geschehen?", fragte ich augenblicklich besorgt und ließ sie hereinkommen.

„Allerdings", lautete ihre Antwort.

Ich schluckte. „Hat es etwas mit Iwan zu tun?"

Ich wagte es kaum, hier im Haus diesen Namen laut auszusprechen, aber wenn etwas geschehen war, wäre Geheimhaltung ohnehin nicht mehr von Nöten.

Anna schüttelte den Kopf. „Nein, das ist es nicht. Es hat nichts mit dir zu tun, aber nichtsdestotrotz ist es eine schlechte Nachricht."

„Jetzt erzähl es mir schon", drängte ich sie, was ich so gar nicht von mir kannte.

„Es ist etwas, von dem ich noch gar nicht wissen sollte und was mein Vater mir sicher mitteilt, wenn er morgen früh wieder nach Hause kommt. Ich habe es gerade von Mary erfahren, die nur zufällig gehört hat, wie mein Vater meiner Mutter davon erzählt hat."

Sie machte eine kurze Pause. Ich hatte sie noch nie so aufgelöst erlebt. Anna war immer gefasst und wenn sie das nicht war, dann sprach die Wut aus ihr und nicht, wie gerade, die Verzweiflung.

„Es gibt da einen österreichischen Baron. Von Hellensang ist sein Name glaube ich. Irgendetwas langes Deutsches auf jeden Fall. Er ist seit einem halben Jahr verwitwet und hat noch keine Nachkommen und wie es scheint, soll ich diejenige sein, die dafür sorgt, dass er noch welche bekommt."

Sie hielt inne.

„Sie wollen dich nach Österreich verheiraten?", fragte ich schließlich, um endgültige Klarheit zu erlangen.

Annabeth nickte und ich glaubte, Tränen in ihren Augen schimmern zu sehen. „Dabei spreche ich doch kein einziges Wort deutsch. Er ist nicht schrecklich alt. Ich habe gehört, er sei in seinen Mittdreißigern, aber ich kann jetzt nicht einfach in ein fremdes Land ziehen. Nicht jetzt. Es geht nicht jetzt, weil..."

Ihre Stimme bebte und ich fürchtete, sie würde bald zusammenbrechen.

Deswegen nahm ich sie einfach in den Arm und hielt sie fest. Ich konnte nicht mit Sicherheit sagen, ob sie wirklich weinte, aber es war egal, ob sie es tat oder nicht. Sie musste mir nicht beweisen, wie schrecklich es ihr gerade ging. Jetzt musste ich einfach nur da sein, um sie zu trösten.

BlutbrautWo Geschichten leben. Entdecke jetzt