Donnerstag, 14.08.1879

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Es kam mir an diesem Vormittag gelegen, dass Annabeth mich darum bat, Zeit mit ihr zu verbringen. Nach der gestrigen Innigkeit mit Theodore hatte ich nicht erwartet, dass sich die beiden so bald voneinander lösen würden. Immerhin bekam ich so nun die Gelegenheit, Lady Elizabeth' Wunsch zu erfüllen und entging noch dazu James, der sich bei unseren letzten Schachspielen zwar als nicht ganz so nervenaufreibend bewiesen hatte, wie es sonst üblich war, doch ich war nicht sonderlich erpicht darauf, mein Glück erneut herauszufordern.

Wir saßen in Annas Zimmer auf ihrem Bett, die Vorhänge zugezogen, obwohl oder gerade weil sich draußen die Sommersonne zum Scheinen erbarmt hatte und sahen das an Kleidungsstücken durch, was sie aus London mit sich gebracht hatte.

Zugegebenermaßen hatte ich damit gerechnet, hier eine Gelegenheit zu haben, bei der ich mich entspannen konnte, doch obgleich Annabeth sich bemühte vorzugeben alles sei in bester Ordnung, spürte ich, dass sie am liebsten von hier fortwollte.

„Ich glaube, den brauche ich nicht mehr", meinte sie und hielt einen mittelgrauen Rock hoch, von dem ich mich nicht entsinnen konnte, ihn jemals an ihr gesehen zu haben. Zwar handelte es sich hierbei um keine Frage, doch es war offensichtlich, dass Anna meine Meinung dazu erwartete.

„Nein, sicherlich nicht", stimmte ich ihr daher zu.

Allerdings schien es nicht das gewesen zu sein, was Annabeth von mir hören wollte. „Eigentlich nicht, doch könnte es nicht sein, dass ich ihn benötige, wenn wir von hier fortgehen?"

Es kam mir recht umständlich vor, seine Zweifel so an den Tag zu legen, doch letztlich konnte ich jetzt verstehen, weswegen sie mit mir reden wollte. Was würde es ihr nützen, ihre Ängste Theodore zu unterbreiten, der sein Leben dafür riskierte, die Hamiltons ein für alle Mal zu verlassen. Er war wahrscheinlich der Letzte, der verstehen konnte, dass sie noch etwas bei ihrer Familie hielt. Und ich? Ich war einfach die nächste Wahl. Doch anstatt mich auf die eine oder die andere Seite zu schlagen, fand ich es fern jeglicher Realität, sich an dem festzumachen, was man schon besaß, wenn es darum ging, sein Leben woanders neu aufzubauen. Hatten die Hamiltons selbiges nicht sogar von mir verlangt, als sie mir offenbarten, weswegen ich wirklich bei ihnen war?

„Du wirst sicherlich nicht die Gelegenheit haben, viel mit dir zu nehmen", sagte ich und kam mir dabei schrecklich altklug vor. „Du wirst ein neues Leben beginnen, in dem es genug Möglichkeiten geben wird, an angemessene Kleidung zu geraten."

Annabeth legte den Rock beiseite. „Und wenn nicht?"

„Wie meinst du das?"

Es war kaum zu übersehen, dass Anna nun den Tränen nah war. „Ich habe in allem versagt. Ich habe meine Familie enttäuscht, weil ich hoffte, so Theodore vor Unheil zu bewahren, doch stattdessen hat es uns nur noch mehr Leid gebracht. Ich war nicht einmal in der Lage, unserem Kind Leben zu schenken... Wie soll es uns da weiter ergehen?"

Ihre Stimme zitterte. Es war der Punkt erreicht worden, an dem sogar ihre Selbstbeherrschung ihr nichts mehr einbrachte, sodass sie die Tränen nicht länger zurückhalten konnte. Da ich nicht wusste, was ich sagen sollte, blieb ich lieber still und nahm sie stattdessen in den Arm. Ob diese Geste nun von der Freundschaft zeugte, die wir womöglich teilten, vermochte ich nicht zu sagen.

„Ich danke dir so sehr, Evelyn", hauchte Annabeth.

Es war unwahrscheinlich, dass wir gleich einfach wieder dazu übergehen würden, Annas Kleidung durchzusehen, was nicht hieß, dass ich es nicht willkommen heißen würde. Doch wir wären ohnehin nicht dazu gekommen, darüber nachzudenken, wie wir fortfahren sollten, denn die polternde Stimme Lord Jonathans beanspruchte alle Aufmerksamkeit für sich.

BlutbrautWo Geschichten leben. Entdecke jetzt