Kapitel 1

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Den Blick nachdenklich in die Einkaufstüte geheftet, hastete ich durch die dunkle Nacht.
Eier, Käse, Brot, Milch, Saft ... hatte ich etwas vergessen?
Für Gemüse und Obst reichte unser Budget meist nicht.
Kühler Nieselregen prasselte auf die Stadt herunter. Zu dieser Jahreszeit war der Himmel meist wolkenbedeckt und grau, die Blätter färbten sich rot und ein kühler Wind läutete den nahenden Winter ein.
Die Straßen waren unbelebt und nur spärlich von alten Straßenlaternen beleuchtet. Die Kleinstadt an der Südwestküste Irlands, in der es fast ununterbrochen regnete, war in einen unheimlichen Schleier der Stille gehüllt. Fast war es mir, als würde mich ein dunkler Schatten verfolgen und unbewusst beschleunigte ich meinen Schritt.
›Sei nicht lächerlich‹, ermahnte ich mich innerlich, dennoch stoppte ich nicht. Nur noch wenige Straßen und ich würde an der schäbigen Wohnung ankommen, die Mutter und ich bewohnten.
Ohne mich umzusehen spurtete ich in eine schmale Gasse zwischen zwei Einfamilienhäusern ein, in der keine Autos fuhren.
Die weiße Plastiktüte fiel mir aus der Hand, meine Einkäufe verteilten sich über den nassen Asphaltboden. Das Geräusch riss die zwei Silhouetten, die inmitten der Gasse miteinander gerangelt hatten, voneinander fern.
›Renn! Flieh! Tu etwas, nur steh nicht dumm da und warte auf deinen Tod!‹, hallte es in meinem Kopf wider. Immer und immer wieder, während die nächsten Sekunden verstrichen, als hätte jemand sie in Honig gestrichen. Bittersüß und gefährlich zerrannen die Momente vor meinen Augen.
Eine der Personen – den Umrissen nach zu urteilen eine Frau – fiel leblos auf den Boden. Kein Laut entwich ihren Lippen, als ihr Kopf hart auf dem Asphalt aufprallte. Die andere – ein Mann – entfernte seinen Blick langsam von dem Körper der Frau, in meine Richtung.
In der Dunkelheit der unbelichteten Gasse konnte ich nichts erkennen. Keine Gesichtszüge, nichts, was ihn identifiziert hätte. Doch was hätte es mir auch geholfen.
Der Moment schien zu erstarren, als mein Blick dem seinen traf.
›Dämon!‹
Seine Augen waren blutrot, leuchteten mir katzenartig entgegen.
Zeugenschutzprogramm! Die Polizei würde mich beschützen, mir einen neuen Namen, neue Stadt und neues Gesicht geben. Ich würde leben!
Das glibberige Innere der zerbrochenen Eier rann in meine Schuhe, als der Mann plötzlich im Nichts der Dunkelheit verschwand. Puff.
Keine Rauchwolke, kein lauter Applaus, nur der stille Trick eines wahren Zauberers.
Dann spürte ich den Hieb, als mir etwas von hinten gegen den Kopf prallte.
Das letzte, was ich wahrnahm, bevor Dunkelheit mich umhüllte, was die Nässe in meinen Schuhen. Ich starb, während meine Füße in Eiweiß gebadet waren.


»Du hättest sie töten sollen.«
»Was soll ich sagen ... ich hab eine zarte Seite an mir.«
Ich versuchte, meine Augen zu öffnen, doch ich konnte nicht. Mein Mund war wie zugekleistert und mein Kopf drehte sich, als hätte ich Stunden in einem Karussell verbracht.
»Du musst verrückt geworden sein. Was sollen wir Navo erzählen? Dass du dir ein Haustier zugelegt hast?«
»Ja, so was in der Art.« Der Mann kicherte. Zwei Stimmen – eine Frau und ein Mann.
»Alec ... das ist kein Scherz. Was willst du ihr sagen, wenn sie aufwacht? Hallo, ich habe dich entführt, weil du zur falschen Zeit am falschen Ort warst, doch sei unbesorgt. Ich töte dich jetzt.« Sarkasmus. Eine Geliebte oder Schwester?
»Sie ist unschuldig ... was erwartest du denn von mir? Dass ich einfach so einem jungen Mädchen den Kopf abreiße, nur, weil sie etwas gesehen hat? Wohlmöglich nicht einmal das, es war dunkel.«
»Und wieso hast du sie dann nicht einfach liegen lassen?« Ein Schrei, so laut, wie ich ihn noch nie zuvor gehört hatte, dröhnte in meinen Kopf. Ich wollte mir die Ohren zuhalten, doch ich konnte nicht. Die Frau war wütend.
»Du bist echt der dümmste Mann, der mir jemals unter die Augen gekommen ist. Für deinen Spaß setzt du sogar das Leben deiner Familie aufs Spiel. Aber alles ist in bester Ordnung, solange es dir gut geht.« Eine Pause. Stille. »Du machst doch eh immer, was du willst.«
»Luti«, setzte der Mann an, seine Stimme kaum mehr ein Hauch, doch die Frau blieb leise. Dann das Knallen einer Tür und abermals Dunkelheit, die mich ummantelte.


»Das ist wirklich ein Problem ...« Die Stimme eines Kindes. Junge oder Mädchen? Schwer zu sagen.
»Navo, es ... es tut mir leid. Ich habe gehandelt, ohne zu Denken.«
»Ist es denn wahr, was du mir vorhin anvertraut hast?« Stille. Alec lieferte seine Antwort wohlmöglich mit Körpersprache. Instinktiv fühlte ich, dass mein Körper mir wieder gehorchte. Der Schmerz war verblichen und hätte ich es gewollt, hätte ich aufspringen und laut ›Buh‹ schreien können, in der Hoffnung, mir damit ein Fluchtfenster zu öffnen. Doch ich spielte tot und lauschte dem Gespräch zwischen Alec, vermutlich meinem Entführer, und dem Kind Navo.
»Ich kann dir nicht sagen, wie du hättest handeln sollen, Alec. Ich verstehe dein Verlangen nach Normalität. Doch kann ich nicht gutheißen, dass du uns alle in Gefahr gebracht hast. Vorerst – damit meine ich wirklich nur für ein paar Tage – kann sie hier bleiben. Wir kümmern uns um sie. Doch danach müssen wir alle gemeinsam entscheiden, wie wir weiter vorgehen. Und das bedeutet auch, dass wir sie vielleicht töten müssen.«
Ein Seufzen. Bedauern? »Ich weiß ... bitte vergib mir, Navo.«
»Du solltest mit Luticia reden. Zwietracht zwischen Geschwistern kann nur in Unglück enden. Dann kehre wieder zurück, für den Fall, dass sie aufwacht.«

Von Dunkel zu LichtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt