Die Erinnerungen kamen schlagartig zurück. Leuchtend rote Augen, Magie, dann nichts.
Vielleicht hatte ich auch nur zu viele Bücher gelesen, doch die Entführung war echt. Der Schmerz war echt. Und die Tatsache, dass ich alleine war, war ebenfalls echt.
›Flucht!‹, kam es mir sofort in den Sinn, doch so schnell ich mich erhoben hatte, so schnell sank ich wieder ins Bett zurück. Sterne tanzten vor meinen Augen, Schwindel umhüllte mich und ich musste mich behutsam wieder auf den Rücken legen, um nicht auf den Boden zu erbrechen.
›So viel dazu.‹
Mit zusammengeballten Fäusten starrte ich an die weiße Zimmerdecke. Sie war leer, ebenso wie mein Inneres. Nur Wut und Verzweiflung wüteten in mir, ließen heiße Tränen in mir aufsteigen.
So konnte ich es nicht enden lassen – so wollte ich es nicht enden lassen.
›Mein Leben hat gerade erst begonnen, verflucht!‹
»Und ich werde verflucht sein, wenn ich es hier enden lasse«, beendete ich meinen Gedankengang mit krächzender Stimme. Meine Kehle brannte, als wären hundert Leuchtfeuer in ihr entflammt – mein gesamter Körper ein einziger Schmerz.
Doch die Wut machte mir Kraft. Entschlossen setzte ich mich auf. Erst jetzt nahm ich wahr, wie unerwartet weich und gemütlich das Himmelbett war. Der Raum, in dem ich mich befand, ähnelte einem Schlossgemach, mit rotem Perserteppich auf dem Boden und Wandmalereien von Szenen der griechischen Mythologie.
Narziss, der auf Knien über einen Teich auf der Waldlichtung gebeugt war, auf der anderen Seite des Raumes, die scheue Nymphe Echo, hinter Blumen und Bäumen versteckt.
›Jetzt ist nicht die Zeit, um große Augen zu machen – reiß dich zusammen!‹
Dieses Mal gelang es mir, mich aufzurichten, ohne tot umzufallen. Jetzt war meine Chance.
Behutsam setzte ich einen Fuß vor den anderen, bis ich an der dunklen Holztür angelangt war. Ich atmete tief durch, dann stoß ich die Tür offen und rannte nach links in den Gang hinein.
Wohin ich lief? Hauptsache weg!
Doch schnell erkannte ich, dass mein Plan erhebliche Denkfehler aufwies. Wenn ich mir zuvor noch unsicher gewesen war, wo ich mich befand, wurde mir eines mit jedem Schritt, jeder Treppenstufe, jedem pompösen Gang bewusst. Es war unzweifelhaft ein Schloss.
Mein Herz pumpte in meiner Brust, schoss pures Adrenalin durch meine Adern. Im Rennen versuchte ich, mir die verschiedenen Wandgemälde genau einzuprägen, damit ich nicht im Kreis lief.
Gerade, als ich um die nächste Ecke bog, verzweifelt nach einem Ausgang suchend, prallte ich gegen etwas Hartes, das mich mit Wucht auf meinen Hintern beförderte.
Panisch blickte ich nach oben, als mir ein erleichterter Aufschrei entfuhr. Der Mann mit dem blonden Haar und den braunen Augen war in eine Polizeiuniform gekleidet, den Kopf schiefgelegt und die Augenbrauen hochgezogen.
»Wen haben wir denn hier?«, murmelte er mit süffisantem Grinsen, das mich wohl beruhigen sollte. Schnell rappelte ich mich auf, begann jedoch noch in der Bewegung zu plappern:
»Ich bin gerettet! Meine Mutter hat Sie sicherlich über meine Entführung informiert, Herr Kommissar. Soweit ich es mitbekommen habe, sind es mindestens drei Komplizen – eine Frau namens Luticia, ein Kind namens Navo und mein Entführer Alec. Wir sollten schnell von hier verschwinden, sie sind gefährlich, Weiteres können wir auf der Wache diskutieren.« Die Worte sprudelten nur so aus mir heraus. Atemlos hielt ich schließlich inne und nahm mir eine Sekunde, um die Gestalt vor mir näher zu betrachten. Ich war mir sicher, dass mein Gesicht vor Freude rot leuchtete, in meinen schmutzigen Klamotten und dem wilden Haar fühlte ich mich elendig, doch der Polizist gab mir Hoffnung.
Dieser räusperte sich, ehe er mit geschwellter Brust verkündete: »Sorgen Sie sich nicht, Fräulein, ich bin zu Ihrer Rettung geeilt! Folgen Sie mir schnell!«
Er setzte seinen Hut, den er während meiner Ansprache zwischen den Händen gewiegt hatte, wieder auf den Kopf, dann drehte er sich auf dem Absatz um und begann zu rennen.
Ohne Zögern folgte ich ihm. Ich konnte es kaum fassen, dass es so einfach gewesen war. Meine Mutter war einfach die Beste, sie musste sofort gerochen haben, dass etwas nicht stimmte!
Ich sandte ein Stoßgebet gen Himmel. So schlimm der Tag auch begonnen hatte, er wurde mit jedem Schritt besser.
Wir spurteten eine breite Treppe hinunter, die in einen riesigen Saal führte, an dessen Ende sich zwei Flügeltüren befanden. Auf dem Weg waren wir niemandem begegnet und so wiegte ich mich bereits in Sicherheit, als der Polizist plötzlich im Laufen meine Hand packte und mich nach links zerrte.
»Was zur ...«, entkam es mir, als der Mann die Tür auftrat und mich in einen warm beleuchteten Raum schubste. Der unerwartete Hieb brachte mich aus dem Gleichgewicht und ließ mich auf alle Vieren auf dem Teppich landen.
Hinter mir ertönte ein belustigtes Kichern.
»Schaut an, was mir über den Weg gelaufen ist. Sie hat doch glatt versucht, abzuhauen – was sagst du dazu, Alec.« Wie dumm. Dumm, dumm, dumm.
Natürlich war der Mann nicht mein Retter in der Not, vielmehr mein Henker zum Schafott. Mein Blick war starr auf meine geballten Fäuste gerichtet, auf denen ich mich immer noch abstützte. Ich wagte es nicht, mich aufzurichten. Scham und Verachtung drückten mich herunter.
»War die Mission erfolgreich?«, ertönte die Kinderstimme Navos, das angespannte Schweigen durchbrechend. Ich nahm eine wage Bewegung hinter mir wahr, als die Schuhe des Polizisten sich in mein Blickfeld schoben und in Richtung Navos Stimme verschwanden.
»Alles tip-top Chef. Die Mutter der Kleinen hat sich tausendfach bei mir bedankt und mich mit Kuchen versorgt.« Er machte eine Pause, in der mein Elend sich ins Unendliche auszudehnen schien. Diese Kerle wussten, wo ich wohnte – viel Schlimmer noch. Sie hatten meiner Mutter aufgelauert. ›Kuchen‹ konnte hierbei nur ein Codewort für etwas Unaussprechliches sein.
Eine eiskalte Klaue umgriff mein Herz und schnürte es in Angst zusammen.
Die Stimme des falschen Polizisten erklang erneut mit einen komisch imitierenden Ton: »Guten Tag, Frau Tigr, ich bin Caleb von der örtlichen Behörde. Ich bedaure sehr, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihre Tochter Margot Tigr gegen elf Uhr der vergangenen Nacht Zeugin eines brutalen Mordes geworden ist. Wir, die Polizei, sind gerade rechtzeitig am Tatort angekommen, um sie in Sicherheit zu bringen!
Wir mussten sie in unser neues Zeugenschutzprogramm aufnehmen, um Ihre Tochter und auch Sie selbst vor dem skrupellosen Täter zu beschützen.« Ich glaubte nicht, was ich da hörte. »Bitte, haben Sie keine Angst, wir kümmern uns um Ihre Tochter, bis der Mörder gefasst ist. Telefonate können wir aus Sicherheitsgründen nicht zulassen, doch Sie können mir gerne einen Brief für Ihre Tochter mitgeben bla bla bla.«
Schwere Schritte, dann segelte ein weißes Kuvert vor mir zu Boden. »Das hier ist glaub ich für dich.« Tränen stauten sich in meinen Augen an. Diese Leute waren gut. Sie hatten sogar daran gedacht, meine Mutter mit einer bodenlosen Lüge still zu halten.
»Gut. Wir können den Trubel der Polizei nicht gebrauchen. Am Ende finden sie uns noch«, kommentierte Narvo das eben Gehörte. Trauer und Verzweiflung wurden zu Wut und endlich schaffte ich es, meinen Kopf zu erheben.
Ich kniete in einem Raum, das aussah wie eine altmodische Version von Wohnzimmer, mit Deckenhohen Fenstern, Bücherregalen und einer Ansammlung von vier Sofas um einen niedrigen Tisch. Dahinter prasselte ein Feuer im Kamin und gab dem Moment ein gefährliches Ambiente. Ein Kind, sieben Männer und drei Frauen blickten auf mich, als wäre ich eine Zooattraktion.
Schnaubend richtete ich mich vollends auf, den Brief meiner Mutter in der Faust zusammengeknüllt. Ich musste mich zurückhalten, um nicht auf den Boden zu spucken, denn die Adressierung ›An Margot‹ trug unverkennbar ihre Handschrift.
»Was habt ihr mit meiner Mutter gemacht?«, brachte ich gepresst und bedrohlich ruhig hervor. Ich bezweifelte, dass ich in meinem Zustand Eindruck schindete, doch das scherte mich nicht.
Alle Gesichter, außer Calebs, waren mir fremd. Da ich mich nur an rote Augen erinnern konnte, wusste ich auch nicht, welcher der Vollidioten Alec war. Narvo hingegen war unschwer zu erkennen, er saß im Schneidersitz da, die Arme verschränkt und mich nachdenklich musternd. Junge.
»Du solltest uns danken – hätte sie dein Verschwinden an die große Glocke gehängt, wäre sie wahrscheinlich schon tot. Es gibt Leute, die uns suchen, und somit nun auch dich. Wir haben sie sozusagen beschützt.« Caleb war der Erste, der seine Sprache widerfand.
Bei genauerer Betrachtung, empfand ich seinen Charme mehr als nur widerlich und sein Aussehen zu glasiert und gestellt, um gutaussehend zu sein.
Unzählige Fragen schwirrten in meinem Kopf herum, doch unter den forschenden, feindlichen Blicken der Fremden, konnte ich nur an eines denken. »Wer seid ihr und was wollt ihr von mir?«
»Nicht wir. Er.« Ich kannte diese Stimme. Luticia, eine brünette Schönheit, die in ihren Mittzwanzigern sein musste, nickte herablassend zu dem jungen Mann neben ihr auf dem Sofa. Sie hatten dieselben, honiggelben Augen, geschwungenen Lippen und kantige Gesichtszüge. Unverkennbar Geschwister.
Das war also das Gesicht meines Entführers. »Alec«, zischte ich hasserfüllt, was seine balkenartigen Augenbrauen verwundert in die Höhe schießen ließ.
»Sieh an – sie erinnert sich an mich!«
»Ja, ich erinnere mich daran, wie du eine unschuldige Frau ermordet hast! Wie du dich ...«, einen Moment stockte ich. Sollte ich wirklich aussprechen, was ich dachte gesehen zu haben? Die Erinnerungen, die ich so hartnäckig verdrängt hatte, schlugen mit voller Macht auf mich ein und ließen mich schwindeln.
»Wie du dich vor meinen Augen in Luft aufgelöst, mich dann niedergeschlagen und entführt hast! Du bist krank und ein Psychopath. Deine Schwester hatte Recht – ich wäre lieber tot, als hier und jetzt! Ich weiß nicht, was du von mir willst oder erhoffst, aber eines sei dir gewiss.
Töte mich jetzt, oder du wirst es eines Tages bereuen. Denn, und das verspreche ich dir, werde ich dich umbringen, sollte sich mir je eine Gelegenheit dazu bieten.«
DU LIEST GERADE
Von Dunkel zu Licht
FantasyMargot glaubte nicht an Zufall, bis sie Zeugin eines Mordes wurde. Sie glaubte nicht an Unglück, bis der skrupellose Mörder sie entführte. Sie glaubte nicht an Schicksal, bis sie sich in den Mann verliebte, den sie geschworen hatte umzubringen. M...