Kapitel 6

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In meinem Inneren befand sich ein saugendes Loch nichts, das jede ach so kleine Emotion in sich aufnahm und zerstörte. Ich wollte wütend sein, doch ich konnte es nicht. Traurig, verzweifelt, panisch – jegliches Gefühl war aus meinen Knochen gewichen.

Meine Augen waren blutunterlaufen und bis auf die letzte Träne ausgeheult. Mehrere Stunden hatte ich mich im Bett hin und her gewiegt, in Selbstmitleid versinkend. Nun blieb mir nur noch das Gewissen, dass ich sterben würde. Ob es wohl schmerzhaft wäre?

Ein rücksichtsloses Klopfen an der Tür ließ mich erschrocken zusammenzucken. ›Immer noch Gefühl da, hm?‹, dachte ich selbstironisch, als die Tür bereits aufflog und Luticia in den Raum schwebte.

»Es ist Zeit fürs Mittagessen. Diesmal mit der ganzen Mannschaft – sei unbesorgt, mein Schwachkopf von Bruder ist immer noch weg. Wahrscheinlich muss er seine Emotionen irgendwo auslassen.« Sie kicherte leicht. Misstrauisch beäugte ich ihr Gesicht, das fröhlich strahlte. Erschreckend.

»Ich habe keinen Hunger. Und überhaupt, wo liegt der Sinn in Essen, wenn ich ohnehin sterben werde.«

»Dass du einen fröhlichen Tod hast«, erwiderte Luticia spielend, was ich mit einem Grummeln erwiderte. Sie machte mir regelrecht Angst in diesem Zustand.

»Was ist denn in dich gefahren?«, wollte ich daher wissen, auch auf die Gefahr, dass sie mich für meine Neugier bestrafte. Doch ganz zu meinem Überraschen setzte sie auf das Fußende des Bettes und verschränkte wichtigtuerisch die Arme.

»Caleb hat mich vorhin aufgesucht, um nach dem Vorfall zu fragen – er ist unheimlich neugierig und kann manchmal ziemlich kindisch sein. Aber er hat auch eine ganz andere Seite, die er nur mir zeigt und vorhin, als er mich langsam in den Arm genommen hat, da ist die Zeit stehen geblieben. Mein Herz«, ihre Hand legte sich sanft auf ihre Brust, den Blick träumerisch in die Ferne gerichtet, »rast immer noch bei der Erinnerung. Das letzte Mal, als wir so einen Moment geteilt hatten, ist Jahre her.« Dann entspannte sie sich wieder und blickte nachdenklich auf mich. Ich hatte mich aufgesetzt und die Arme um meine Knie geschlungen, während ich Luticia lauschte.

»Vielleicht hatte Alec ja Recht – du bist schon ein seltsames Mädchen.«

»Wieso ... wieso erzählst du mir das alles?«, hakte ich vorsichtig nach. Sie war freundlich und schien so glücklich zu sein, wie ich es ihr niemals zugetraut hätte. Anscheinend konnten sich auch Wesen wie sie verlieben, doch dass sie aus mir nun ihre beste Freundin zu machen schien, verängstigte mich.

Sie erwiderte mit einem Schulterzucken: »Du bist doch eh bald tot, was macht es da für einen Unterschied, was du weißt oder nicht weißt. Und jetzt komm zum Essen, Narvo und die anderen warten sicher schon. Er möchte dir noch einige Fragen stellen.«

Ich schluckte hart. Wie sollten sich die Ereignisse in diesem verfluchten Schloss mit meiner Emotionslosigkeit vereinbaren lassen? Denn schon spürte ich mein Herz vor Aufregung rasen und meine Kehle vor Nervosität anwachsen, bis sie kaum mehr Luft durchließ.

Das Mittagessen fand nicht in der Küche statt, in die Alec mich zuvor geführt hatte, sondern in einem großen Speisesaal an einem langen Tisch, der mindestens 50 Menschen zuließ. Die siebenköpfige Gruppe hatte sich auf einer Seite zusammengefunden, Narvo auf dem Platz des Oberhauptes am Tischende. Ich bemerkte, dass ein blonder Mann und eine rothaarige Frau, deren Namen ich nicht kannte, abwesend waren.

»Willkommen«, begrüßte Narvo mich und deutete mit der rechten Hand auf den Platz zu seiner Seite. Stumm schritt ich Luticia hinterher und setzte mich auf den gepolsterten Stuhl, Teller und Schüsseln voll duftendem Essen vor mir.

Aller Augen waren abermals auf mich gerichtet, was mich zunehmend nervös machte. Glücklicherweise schien Narvo meine Situation zu bemerken und herrschte die Gruppe an, ihre Teller zu füllen.

»Es tut mir leid, meine Freunde hier können sehr indiskret sein«, lächelte er mir höflich zu, begleitet vom Klirren des Geschirrs. »Greif doch zu.«

Sollte ich mich dafür schämen, dass dieses Kind mir ein Gefühl von Sicherheit gab?

Als mein Teller mit Salat, Kartoffeln und gebratenem Huhn angefüllt war, fuhr Narvo unser Gespräch fort.

»Vielleicht wunderst du dich über meine Erscheinung ... lediglich ein Geburtsdefekt, der es mir unmöglich macht, zu altern.« Ein schiefes Lächeln erschien auf seinen Lippen. Kauend griff ich nach dem Glas Wasser vor mir, dann fragte ich interessiert:

»Wie alt bist du denn eigentlich?«

»Älter, als dass ich die Jahre hätte mitzählen können. Aber das war nicht der Grund, wieso ich dich hergebeten habe.« Seine Stimme senkte sich und sein Blick ließ von mir ab und wanderte über die Gesichter der Anderen. Ich folgte ihm und bemerkte, dass alle mit den Köpfen über ihren Tellern hingen, uns aus den Augenwinkeln jedoch anstarrten. Sofort überkam mich eine Hitzewelle von Angst, als ich Narvo abermals seufzen hörte.

»Wenn ihr etwas zu sagen habt, dann sprecht es aus! Margot ist ein Mensch und kein Tier – was immer ihr zu sagen habt, spuckt es aus.«

Niemand wagte es, die Stimme zu erheben. Luticia schwebte in einer anderen Dimension und von den anderen war sich wohl niemand bewusst, was genau sie an meiner Anwesenheit wurmte. Vermutlich war es schlicht die Tatsache, dass ich hier war.

Nach einigen Momenten unangenehmen Schweigens zog der schwarzhaarige Mann namens Mikael meine Aufmerksamkeit auf sich. »Du bist viel zu gutherzig, Boss. Wie lange planst du, sie hier unterzubringen? Du scheinst vergessen zu haben, dass wir auf der Flucht sind und ihr Geruch sie auf lange oder kurz zu uns führen wird!«

Auf der Flucht? Diese Neuigkeit kam unerwartet, doch sofort speicherte ich sie in meinem Kopf ein. Narvos Gesicht zeigte keine Anzeichen von Emotion. Die Stille zog sich minutenlang, so kam es mir vor, hinaus, während wir uns alle dem Essen widmeten.

Als mein Teller geleert war spürte ich Narvos Hand auf meinem Arm.

»Folge mir bitte. Ich würde gerne einige Dinge mit dir besprechen. In privater Atmosphäre«, fügte er mit warnendem Blick in die Runde hinzu. Dann stand er auf und führte mich aus dem Raum.

Mit mulmigem Gefühl folgte ich ihm, doch etwas in mir flüsterte beständig, dass von diesem Kind keine Gefahr ausging. 

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⏰ Letzte Aktualisierung: Jul 27, 2016 ⏰

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