Kapitel 4

3 0 0
                                    



Eine Hand strich mir sanft über die Stirn. Müde brummend wälzte mich zur Seite, als die Erinnerungen plötzlich wieder auf mich einschlugen. Entführung. Tod.
Erschrocken riss ich die Augen auf und starrte in das Gesicht Alecs, der neben mir saß und mich verdattert musterte. Wie lange hatte er schon dort gesessen.
Als wäre er giftig schlug ich seine Hand weg und krabbelte zur anderen Seite des Betts, was ihm ein kleines Lächeln entlockte.
»Was tust du hier?«, keuchte ich entsetzt, woraufhin Alec mit den Schultern zuckte.
»Ich muss doch aufpassen, dass du nicht wieder abhaust. Außerdem müssen wir miteinander reden.« Ich wünschte, er würde tot umfallen. Draußen dämmerte bereits der Morgen und der warme Sonnenaufgang beleuchtete den Raum.
»Das müssen wir allerdings«, murmelte ich verschlafen, während ich mich aufrecht hinsetzte, die Decke bedacht bis unter das Kinn gezogen. Ich steckte immer noch in meinen alten Kleidern, meine Blase führte einen wilden Stepptanz in meinem Unterleib auf, meine Kehle war ausgetrocknet und mein Magen ebenso leer, wie mein Kessel Selbstachtung. An diesem Morgen hätte ich beinahe alles getan für einen Gang zum Badezimmer, doch Alec eine gute Miene zu zeigen gehörte nicht dazu.
»Also gut – ich höre. Was hast du mir Wichtiges zu erzählen?«, versuchte ich, mein inneres Elend zu überspielen und zog höhnisch meine Augenbrauen nach oben. Ein Grübchen bildete sich auf seiner linken Wange, als Alec amüsiert schmunzelte.
»Wenn du hergekommen bist, um dich über mich lustig zu machen«, wütete ich empört, doch Alec unterbrach mich mit erhobenen Händen.
»Ganz und gar nicht. Du hast mich eben nur ein bisschen ... überrascht. Hast du denn gar keine Angst?«
»Wenn du mich hättest umbringen wollen, wäre ich schon tot. Zu meinem Glück scheinst du daran aber kein Interesse zu haben ... ehrlich gesagt, nein. Ich fürchte mich vor deiner Schwester, vor diesem Ort, an den du mich gebracht hast, und ich fürchte um meine Mutter.« Ich hielt inne. Natürlich raste mein Herz vor Nervosität und mir war bewusst, dass dieser Mann mir mit einer Handbewegung den Hals umdrehen könnte. Doch wenn mich Thriller und Horrorfilme etwas gelehrt hatten, dann das: Wilde Tiere können deine Angst nur dann riechen, wenn du es zulässt.
Ich musste stark sein, oder ich könnte mir gleich mein eigenes Grab schaufeln.
»Wie du bereits richtig erkannt hast, müssen wir miteinander reden. Ich verlange eine Erklärung – für all das hier! Und ich möchte wissen, wieso ... wie es möglich ist, dass ich das gesehen habe, was ich gesehen habe.« Alecs Lächeln wurde tiefer. Ein kalter Schauer jagte mir über den Rücken, während ich weiterhin mit verschränkten Armen in seine dunklen Augen starrte. Sie zogen mich in einen merkwürdig hypnotisierenden Bann.
»Ich habe einen anderen Vorschlag«, hörte ich schlussendlich seine melodische, tiefe Stimme singen, die meinen gesamten Körper vibrieren ließ. »Wie wäre es, wenn du dir erst einmal ein schönes Bad gönnst. Anschließend können wir all das beim Essen besprechen ... aber mal ganz ehrlich, du stinkst wie Venedig im Sommer.«


Das Badezimmer, in das Alec mich führte, war luxuriös und mit Gold verziert. Er hatte sich mit einem amüsierten Lächeln verabschiedet, ehe ich das Wasser samt Badeschaum in die große Eckbadewanne einließ. Auf dessen Kante sitzend starrte ich aus dem deckenhohen Fenster und wartete.
Mit aller Konzentration zwang ich mich dazu, angesichts der Szenerie nicht in Panik zu verfallen. Ein Meer lag unweit des Schlosses, so klar, es schien mit Millionen von Diamanten übersät zu sein, welche das Tageslicht in allen Regenbogenfarben widerspiegelten. Das Schloss stand auf einer Klippe, unter ihm eine Sandstrand-Promenade, soweit das Auge reichte, unweit der Bucht – Regenwald.
Geographie war niemals meine starke Seite gewesen, doch ich war mir sicher, dass Irland keinen Strand wie diesen besaß. Wohin hatte Alec mich verschleppt.
Das heiße Wasser spülte Stress und Sorge von meinem Körper und seufzend sank ich tiefer in die Wanne. Ich versuchte zu entspannen und braute mir verschiedenste Schlachtpläne zusammen. Mein oberstes Ziel sollte sein, Antworten zu bekommen.
Darüber, wo ich mich befand. Wieso Alec mich entführt hatte. Was er und seine Gruppe zwielichtiger Gestalten überhaupt waren.
Nachdem ich von innen und außen frisch gewaschen war, schlüpfte ich in die Klamotten, die Alec für mich bereitgestellt hatte. Die Unterwäsche war rot, ebenso wie das knielange Sommerkleid. Ein vages Gefühl, dass diese Sachen Alecs Schwester gehörten, überkam mich und schwebte wie eine dunkle Gewitterwolke über mir, als ich schließlich das Badezimmer verließ.
›Wenn die mich in ihren Sachen sieht, wird sie mich umbringen‹, schoss es mir durch den Kopf. Womit ich nicht einmal allzu fern von der Wahrheit entfernt war.
»Du siehst gut aus«, ertönte es neben der Tür. Erschrocken zuckte ich zusammen und wirbelte kampfbereit zu Alec herum, der mit verschränkten Armen gegen die Wand lehnte.
»Ein Kompliment meines Entführers, der Traum eines jeden Mädchens«, spottete ich sarkastisch, als ich mich wieder gefasst hatte. Dass ich Alec damit belustigte hatte ich halb erwartet – überhaupt schien er angesichts der Lage unglaublich gute Laune zu haben. Während ich mich anstellte, ihm zu folgen, hackte ich nach: »Du hast mich nur zu deinem persönlichen Vergnügen entführt, nicht wahr?«
»Ehrlich gesagt – ja. Aber glaub mir, hätte ich die Konsequenzen eine Sekunde länger bedacht, dann hätte ich dich an Ort und Stelle massakriert.« Bei diesen Worten stoppte er abrupt und wirbelte zu mir herum. Wir standen inmitten einer schmalen Treppe und beinahe wäre ich in Alec hineingebrettert. Mein Herz raste, als unsere Blicke sich trafen. Die Bedrohung, die seine dunkle Aura plötzlich ausstrahlte, war echt, ebenso wie der animalische Ausdruck auf seinem Gesicht. Vielleicht hatte ich mich geirrt. Vielleicht sollte ich mich vor diesem Mann fürchten.
Obwohl der Augenblick nur kurz währte, hinterließ er ein schwindelerregendes Gefühl der Angst in mir. Plötzlich hellte sich Alecs Miene wieder und er lachte anhand meiner Sprachlosigkeit schallend auf. »Siehst du – so stark wie du tust bist du gar nicht.«
»Ein weiser Mann hat einst gesagt, dass Furcht ein Ausdruck von Stärke ist!«, verteidigte ich mich, meine zerbröckelte Maske verzweifelt zusammensuchend.
Alec hatte sich bereits wieder in Bewegung gesetzt und unbewusst nahm ich den köstlichen Geruch von Essen wahr. »Ach wirklich? Und was hat dieser Mann noch gesagt?«
»Jemand, der sich nicht fürchtet, kann niemals über sich selbst hinauswachsen. Stärke ist die Summe all unserer Ängste. Sie zu überkommen, darin liegt die wahre Kraft des Menschen.« Ich schluckte hart, doch Alec schien nicht bemerkt zu haben, dass ich mir nur selbst Mut gemacht hatte. Schweigend führte er mich durch die Irrgänge des Schlosses.
»Und wenn ich dir sage«, sinnierte er schließlich nachdenklich, »dass ein Mann keine Furcht empfindet – wäre er in deinen Augen schwach, da er nicht mehr wachsen könnte?«
Wir erreichten eine geschlossene Tür, vor der Alec stehen blieb und sich zu mir umwandte. Ehrliches Interesse stand in seinem Gesicht geschrieben, doch seine Frage brachte mich zum Grübeln. Ich brauchte einige Sekunden, um zu antworten:
»Nein – schwach ist der Mann deswegen nicht. Vielleicht hat er bereits all seine Ängste überwunden, oder aber er hat wirklich niemals gefürchtet. In erstem Fall wäre er zutiefst beneidenswert, doch im zweiten Fall würde ich sagen, dass der Mann ein Narr ist, dem seinesgleichen auf der Welt fehlt.« Alec schien mit meiner Antwort zufrieden zu sein, denn ein selbstironisches Lächeln zeigte sich auf seinen Lippen, ehe er die Tür aufstieß.
Mein Blick fiel auf eine altmodische Küche, die mit modernem Herd, Kühlschrank und sonstigen Utensilien bedacht war. In der Mitte des Raumes stand ein Holztisch, auf dem bereits alle möglichen Zutaten standen – Brot, Käse, gekochte Eier, Würstchen ... ich konnte mich gar nicht satt sehen.
Alec schien zu sehen, wie sehr ich mich zurückhalten musste, um nicht über das Frühstück herzufallen. Breit grinsend setzte er sich auf einen Stuhl und folgte mir mit funkelnden Augen, während ich mich ihm gegenüber setzte. Aus den Augenwinkeln maß ich den Raum ein und in blitzeseile hatte sich ein Plan in mir zusammengebraut.
»Greif zu«, lud er mich fröhlich ein. Sofort stürzte ich über das Essen her und schaufelte mit zwei Händen in mich hinein. Alec verlor kein Wort, sondern schaute mir lediglich geduldig zu.
»Kannst du mir ...«, begann ich mit gierigem Blick auf das Brot, als ich mich am großen Bissen in meinem Mund verschluckte und hustend meine Gabel auf den Boden fegte. Während ich mit mir rang erhob sich Alec bereits, um das Besteck aufzuheben.
Als er sich unter den Tisch beugte versteckte ich das scharfe Brotmesser auf meinem Schoß zwischen den Kleiderfalten. Ich betete, dass Alec nichts bemerkt hatte, doch er setzte sich seelenruhig zurück auf seinen Platz.
»Der Husten ist verschwunden?«, vergewisserte er sich mit besorgter Miene. Mein Herz setzte einen Sprung aus und schnell künstelte ich einige Huster, winkte jedoch schnell mit der Hand ab.
»Ja, alles wieder besser. Apropos – hattest du mir nicht Antworten versprochen?«
Schweißperlen standen mir auf der Stirn, während ich jede Gesichtsregung Alecs genauestens inspizierte. Ihn mit dem Messer zu erstechen würde wohl keine große Wirkung haben und wohlmöglich würde es mir seine Gutmütigkeit verscherzen. Doch hatte ich noch nicht vor, das liebe Weib zu spielen. Die Küche lag im Erdgeschoss mit einem breiten Fenster, das geradezu nach mir schrie.
Erst Alecs Räuspern riss mich aus meinen Gedanken. Ich musste ihn dazu bringen, das Fenster zu öffnen!
»Antworten ... allzu viel kann ich dir leider nicht verraten. Es ist ein ganzer Tag vergangen, seitdem ich dich mitgenommen habe. Du hattest wohl echt viel Schlaf nachzuholen.« Ich verschluckte mich an meinem Ei, diesmal jedoch richtig.
»Ein ganzer Tag?«, keuchte ich ungläubig und sofort kam mir das belauschte Gespräch aus meinem Delirium in den Sinn. Navo hatte mir ein paar Tage gegeben, ehe sie über mein Schicksal entscheiden würden. Mir lief die Zeit davon.
Entsetzt fixierte ich Alec, erpicht, mehr zu erfahren. Sein Gesicht zierte ein Schleier aus Traurigkeit, was mich immens verunsicherte.
Er wartete einige Momente, ehe er antwortete: »Ich sollte mich wohl entschuldigen, dass ich dich einfach so hierhin verschleppt habe. Die ganze Schuld dazu liegt bei mir, keinem anderen.«
»Und wo genau ist hierhin?«
»Asien. Mehr brauchst du nicht zu wissen«, meinte er knapp. Mir fiel beinahe die Kinnlade herunter. Ich konnte mich an keinen Flug erinnern und so tief konnte ich gar nicht geschlafen haben, dass ich das nicht bemerkt hätte! Dann fiel es mir wieder ein.
»Als du ... diese Frau getötet hast«, begann ich, ein mulmiges Gefühl der Verachtung in meinem Bauchinneren, »da hast du dich plötzlich in Luft aufgelöst ... wie ist das möglich?«
»Ich bin nicht menschlich, aber ich bin auch kein Tier. Ich bin etwas, das jenseits deiner Vorstellungskraft liegt.« Dieses Gespräch wurde mit jedem Wort verrückter, der Mann vor mir dubioser. Würde ich nicht verzweifelt an meinen Erinnerungen festhalten, wäre ich überzeugt, den Verstand verloren zu haben. Doch das wollte ich nicht glauben.
»Hör zu, Margot. Es gibt Dinge auf dieser Welt, von denen die Menschen zu Recht nichts wissen. Mächte, die größer sind als jede chemische Waffe, jede Atombombe.« In Alecs Miene las ich nichts als Ehrlichkeit und Ernst. Vielleicht war genau das der Grund für meine wachsende, unhaltbare Panik. Ich musste fliehen.
Mein Herz begann zu rasen, die Luft wurde zunehmend enger und schnell fragte ich: »Könntest du bitte das Fenster öffnen, mir wird gerade schwindlig.« Alec würdigte meiner Bitte keine Antwort. Stumm erhob er sich und schritt zum Fenster.
Möglicherweise war mein nächster Zug nicht gerade der Schlaueste. Nein – mein Vorhaben war äußerst kindisch und dumm, doch ich konnte nicht anders, als es zu wagen!
Ich wartete, bis er das Fenster geöffnet hatte, dann sprang ich auf meine Beine, begleitet vom dumpfen Geräusch des Stuhls. Alec hielt mitten in seiner Bewegung inne, als nahm er die Situation in sich auf, dann wirbelte er herum, doch ich rammte ihm das Messer bereits mit all meiner Kraft in die Rippen.
Ich hatte mir vorgestellt, auf Widerstand zu stoßen, Knochen vielleicht, oder Muskel. Doch das scharfe Messer drang in seine Haut ein, als wäre Alec aus Butter. Japsend starrte er mich an und für einen Augenblick, der eine Ewigkeit währte, schien die Welt den Atem anzuhalten.
Dann rammte ich ihn zur Seite, klemmte die Arme zwischen den Fensterrahmen und sprang auf den Sims. Pures Adrenalin schoss durch meine Adern, mir wurde schwindlig und mein gesamter Körper bebte vor Anspannung. Ein Sprung und ich wäre frei.
Plötzlich spürte ich, wie sich ein Arm von hinten um mich schlang und mit voller Wucht zurückstieß. Mit einem Schmerzensschrei landete ich auf dem Tisch, der unter meinem Gewicht nachgab und in die Senkrechte schoss. Ich landete auf den Hinterleib, Teller und Gläser klirrten zu Boden.
Dann erfassten mich Alecs Augen. Mir war, als würde mir jemand alle Luft aus dem Leib schlagen. Blutrote Perlen fixierten mich aus einem diabolischen, zorndurchtränktem Gesicht.
Er zitterte, als wäre jeder Muskel seines Körpers bis zum Zerreißen gespannt.
Eines wurde mir bewusst, während wir uns stumm anstarrten, der Jäger über seiner Beute.
Ich hatte mich geirrt. Alec war gefährlich – und ich sollte Angst vor ihm haben. Vielleicht sogar mehr, als vor allem anderen.
Mit zusammengepressten Lippen wartete ich auf mein Ende.

Von Dunkel zu LichtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt