Kapitel 7

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Alles war dunkel, als ich die Augen öffnete. Nur ein Spalt unter der Tür schenkte dem Raum spärliches Licht. Mein Kopf brummte und mir war übel. So langsam erkannte ich Umrisse. Wo war ich? Ich hatte keine Ahnung. Ich stand auf und tastete mich langsam bis zur Tür vor. »Autsch«, zischte ich. Ich hatte mir den kleinen Zeh gestoßen und das tat höllisch weh. Beim Erschaffen der Menschheit hatte Gott sich anscheinend auch gedacht: „Los, die Menschen bekommen noch einen kleinen Zeh. Das wird lustig." Weiter. Schön langsam gehen, ermahnte ich mich. Dann erreichte ich die Tür, die ich leise öffnete. Jetzt fiel mehr Licht in das Zimmer, es blendete mich sogar. Es war ein Wohnzimmer. Ich hatte in einer fremden Wohnung auf der Couch übernachtet. Oh, Gott. Ich schlich den Flur entlang, hörte eine Kaffeemaschine, wie ich vermutete und jemand summte »Jemanden wie dich« aus dem Radio mit. Die Stimme kam mir bekannt vor, aber ich konnte sie nicht zuordnen.

Vor der Tür blieb ich stehen, räusperte mich laut und betrat schüchtern die Küche. Erschrocken wich ich einen Schritt zurück und bereute es sofort, denn mein Magen spielte wieder verrückt. Frau Lindberger stand dort, stellte die Musik leiser und drehte sich dann zu mir um. »Wie geht es dir?«, fragte sie stirnrunzelnd. »Ganz ok. Ich habe Kopfschmerzen und mir ist ein wenig übel. Was ist passiert? Warum bin ich hier?« Sie deutete mit ihrem Finger auf einen Stuhl. »Wir setzen uns erstmal, frühstücken und dann erzähle ich dir alles in Ruhe.« Ich war etwas skeptisch, aber setzte mich und sah mich zum ersten Mal in ihrer Wohnung um. Geschmack bei der Einrichtung hatte sie auf jeden Fall. Es war sehr gemütlich und ich hatte wohl sowieso keine andere Wahl.

»Kaffee?«, fragte sie und füllte ihre Tasse. »Ja, gern«, murmelte ich und sie schenkte auch mir welchen ein. Er beruhigte meinen Magen, worüber ich sehr froh war. Wir schnitten unsere Brötchen auf und dann erklärte sie: »Ich weiß nicht, was gestern Abend passiert ist. Ich weiß nur, dass du sehr betrunken warst und dich auf der Toilette in dieser Bar übergeben hast. Ich war zufällig da und du meintest, Kati wäre auch da, aber ich habe sie nicht gesehen. Du wolltest nicht nach Hause und deshalb habe ich dich mit zu mir genommen.« Es ratterte in meinem Kopf. Stimmt, ich war gestern mit Kati in dieser Bar gewesen. Wie viel hatte ich getrunken? Ich konnte mich an nichts mehr erinnern. Das war mir wirklich ziemlich peinlich und ich merkte, wie mein Kopf heiß wurde vor Scham. Am liebsten hätte ich geweint. Sie musste es gemerkt haben, denn sie legte ihre Hand sanft auf meine. »Wenn du reden möchtest, dann höre ich dir gern zu«, bot sie mir an, aber ich schüttelte den Kopf. »Danke für das Angebot, aber das ist eine komplizierte Sache.« Sie akzeptierte meine Antwort. Ihre Hand lag noch immer auf meiner, aber ich traute mich nicht, sie wegzuziehen. Eigentlich hätte es mir unangenehm sein müssen, schließlich war sie meine Lehrerin, aber es beruhigte mich unheimlich. Irgendwann zog sie dann doch langsam ihre Hand weg und wir aßen unsere Brötchen.

Ich half ihr beim Aufräumen und wollte dann nach Hause gehen. Nur leider wusste ich nicht, wo ich war. »Wo wohnst du denn?«, fragte Frau Lindberger mich. »Ähm, in der Gerhart-Hauptmann-Straße.« Sie überlegte kurz, dann nickte sie bestimmt. »Ich fahre dich. Es ist zwar nicht allzu weit entfernt, aber du kannst ja gerade so stehen. Da lasse ich dich ungern laufen.« Sie zwinkerte mir zu und ich wollte nicht widersprechen. Eigentlich war ich sogar sehr froh über das Angebot. Ich holte meine Sachen aus dem Wohnzimmer und wir verließen ihre 2-Raum-Wohnung. Sie steuerte auf ihr Auto zu und ich folgte ihr. Es roch sehr angenehm und ich lehnte mich entspannt zurück. Für einen Moment schloss ich die Augen. Plötzlich hörte ich Frau Lindberger fragen: »Welche Nummer ist es denn?« Sofort öffnete ich alarmierend die Augen. »Da vorn das Haus auf der rechten Seite ist es.« Ich zeigte mit meinem Finger in die Richtung und sie stellte sich in die Parklücke für Besucher vor der Tür. »Warum haben Sie das für mich gemacht?«, fragte ich sie schüchtern, aber mit einer Spur Neugierde in der Stimme. Sie starrte mich nur an. Ich sah ihr an, dass sie keine plausible Antwort hatte. »Ich weiß nicht, ich konnte dich nicht so betrunken in der Bar lassen. Und außerdem...« Sie machte eine Pause. »Außerdem...«

Eine Art Aufschrei von draußen unterbrach unser Gespräch. Meine Mama kam auf das Auto zugelaufen und ich öffnete schwungvoll die Tür. »Liebling, wo warst du? Kati hat angerufen und meinte, ihr habt euch gestern verloren. Ich habe mir Sorgen gemacht«, sprach sie schnell und ich sah die Erleichterung in ihren Augen. »Alles gut, ich bin wieder da. Du kannst dich beruhigen«, besänftigte ich sie. Dann erst nahm sie Frau Lindberger wahr. Diese stellte sich als meine Deutschlehrerin vor, klärte die Sache ohne viele Details auf und entschuldigte sich für ihr verantwortungsloses Handeln. Meine Mama wurde wieder ruhiger und bedankte sich bei ihr. »Ich komme gleich rein. Ich will noch kurz alleine mit Frau Lindberger sprechen«, erklärte ich. Als meine Mama wieder ins Haus ging, drehte ich mich zu ihr um. »Danke. Wirklich. Sie hätten das nicht tun müssen...«, fing ich an. »Ist schon in Ordnung«, fiel sie mir ins Wort und streichelte über meinen Arm. Ich bekam eine Gänsehaut. Sie räusperte sich. »Ich denke, es ist besser, wenn du jetzt gehst«, sagte sie und lächelte gequält - ja, so sah es irgendwie aus. Aber vielleicht war es auch nur Einbildung. Sie nahm ihre Hand von meinem Arm und strich mir mit einer liebevollen Geste eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Wir sehen uns spätestens Dienstag«, sagte sie leise und ich nickte nur. Dann stieg ich aus. Meine Mama wollte reden, aber ich wollte einfach nur in Ruhe gelassen werden und mich vor den Laptop setzen. Sie akzeptierte das. Lotta war noch nicht online gewesen. Ich wartete fast zwei Stunden, dann endlich tauchte neben ihrem Namen der grüne Punkt auf.

Pocahontas: Hey Lotta, wie geht es dir? Wieder etwas besser?

Lotta: Ja, ehrlich gesagt schon. Eigentlich geht es mir gerade wirklich gut.

Das wunderte mich etwas. Vorgestern ging es ihr doch noch relativ schlecht. Hatte sie sich gestern mit ihrer Kollegin getroffen, für die sie Gefühle hatte? Ich wollte nicht nachfragen, weil ich Angst vor der Antwort hatte, aber ich konnte nicht anders.

Pocahontas: Klingt doch gut. Ich bin froh, wenn es dir besser geht. Was hast du denn gestern Abend gemacht?

Lotta: Ich brauchte ein wenig Ablenkung und war ein bisschen unterwegs.

Anscheinend wollte sie nichts dazu sagen, aber ich war zu neugierig. Also fragte ich nach.

Pocahontas: Mit ihr?

Meine Fragen kamen mir unpassend und steif vor, aber das war mir momentan egal.

Lotta: Ja, irgendwie schon. Es fällt mir so schwer, dass ich meine Gefühle für mich behalten muss und es nicht einfach sagen kann, was ich empfinde. Ich muss das jetzt selbst erstmal verdauen. Sei nicht böse. Wenn wir uns treffen, werde ich dir erzählen, was passiert ist.

Für mich brach schon wieder eine Welt zusammen. Sie war mit ihr unterwegs gewesen und ich Vollidiotin hatte mich abgeschossen, weil ich Liebeskummer hatte. Ich konnte es nicht mehr ertragen. Vielleicht waren ein paar Tage Ruhe zwischen uns ganz gut und ich konnte danach wieder klarer denken. Das war wahrscheinlich die beste Entscheidung.

Pocahontas: Lotta, es tut mir leid. Ich brauche ein paar Tage Ruhe. Ich glaube, ich brüte etwas aus. Bei mir ist es momentan etwas stressig. Ich melde mich wieder. Mach es gut, wir lesen uns.

Und dann ging ich offline, verkroch mich in Embryostellung in meinem Bett und ließ die Tränen über mein Gesicht laufen. Ich wollte nichts lesen, hören oder sehen. Und fühlen wollte ich schon gar nichts mehr.

Unknown. || gxgWo Geschichten leben. Entdecke jetzt