20. Das Herz

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Es tat weh, die Villa hinter sich zu lassen. 

Doch ich weinte nicht, als ich mit zusammengebissenen Zähnen den Weg zum Wald entlangstapfte. Den Blick angestrengt auf den Boden gerichtet, bemerkte ich Helen erst, als er sich mir direkt in den Weg stellte. Fast wäre ich in ihn hinein gerannt. Der Regen stürzte auf uns hinab und schon nach wenigen Augenblicken klebte uns beiden das dunkle Haar in der Stirn. 

Er war leichenblass. Und seine blauen Augen leuchteten zwischen den schwarzen Haarsträhnen noch intensiver als sonst auf mich herab. „Was hast du vor?" Die Worte kamen stockend über seine Lippen und er warf einen beinahe gehetzten Blick auf den Waldrand hinter sich.
„Keine Ahnung. Einfach weg von hier.", zischte ich und schob mich grob an ihm vorbei. Ich hatte ehrlich gesagt nicht damit gerechnet, dass ausgerechnet er mich aufhalten würde. Und als sein Körper sich erneut vor mich schob, begann es gefährlich in mir zu brodeln. 
„Lass mich durch.", blaffte ich, einen Ticken zu temperamentvoll. Doch er machte keine Anstalten sich auch nur einen verdammten Zentimeter von der Stelle zu bewegen. 

Gepresst stieß ich die Luft aus. Wasser tropfte mir vom Kinn. 

„Warum, Helen? Du kannst mich nicht mal leiden." Ich musterte ihn mit hochgezogenen Augenbrauen, dann seufzte ich. „Machen wir uns doch nichts vor; ich gehöre nicht hier her. Ich gehöre nicht zu euch. Und daran wird sich auch nichts ändern."
Helen schluckte, Hilflosigkeit und Wut flackerten über sein Gesicht. „Du wirst nicht gehen.", sagte er dann langsam, wobei er jede Silbe übermäßig betonte. Dann zog er sein Messer. Die dünne Klinge glänzte scharf, als er sie auf mich richtete. Und jetzt untermalte auch noch das Grollen eines aufkommenden Gewitters seine Geste akustisch. Na wunderbar. „Willst du mir wirklich wehtun?", fragte ich, wobei ich ihm unverwandt in die Augen blickte. Ich wusste, er hätte nichts davon. 

Für einen Augenblick, der sich nach der Ewigkeit anfühlte, standen wir uns gegenüber, während der Regen fiel und die Wipfel der Bäume rauschten. Und schließlich ließ Helen langsam, quälend langsam, seine Waffe sinken. Die Tropfen fielen von seinen dunklen Wimpern, als würde er weinen. Aber er verzog das Gesicht nicht, als er zur Seite trat und mich vorbei ließ.
Ich blickte mich um. Und sah Jeff, der vor der Tür stand und das ganze Geschehen mit ausdrucksloser Miene verfolgt hatte. Kurz verschränkten sich unsere Blicke miteinander. Dann wandte ich mich um. 

„Ava." Ich hielt nicht inne. Hektische Schritte hinter mir. „Ava!"

Und zusammen mit dem meines Verfolgers wurde auch mein Gang schneller, bis ich im Stechschritt kurz davor war loszurennen. Doch in der Sekunde wurde ich am Arm gepackt und grob herumgerissen. Mit aufgerissenen Augen starrte ich Jeff ins Gesicht. Er wiederum atmete schwer. „Wo auch immer du hin möchtest, ich gehe mit dir!" Seine Stimme klang zum ersten Mal, seit ich ihn kannte wirklich aufgebracht. Sie überschlug sich fast. 

Und dann küsste er mich.

Seine vernarbten Lippen fühlten sich ungewohnt auf meiner Haut an. Nicht schlecht, nur eben... anders. Instinktiv hob ich die Hände, um ihn von mir zu stoßen und... resignierte. Warum sollte ich mich noch länger dagegen wehren? Ich hatte mein Herz schon längst in seinen blutüberströmten Händen zurückgelassen. Offenbar hatte ich es ihm bereits geschenkt, bevor es mir selbst wirklich aufgefallen war.
Seit unserem gemeinsamen Sturz aus dem Fenster? Irgendwann zwischen der ersten oder der zweiten Nacht in seinem Zimmer? Oder seitdem er mich aus diesem beklemmenden Kleinbus gezerrt und mir im Regen seine Gefühle gestanden hatte? Es spielte keine Rolle.

Ich begann zu weinen. Heftig schüttelte mich die Angst davor, was hiernach noch alles geschehen würde. Und was ich machen sollte, wenn er mich doch irgendwann loslassen würde, weil er nicht länger einen Nutzen in mir sah. So wie all die anderen vor ihm. Es schmerzte. Und das in einer Art, die wirklich nur schmerzte.
Ich löste mich von Jeff. Schniefte und wischte mir die salzigen Spuren vom Gesicht. Er wartete geduldig. „Ich kann nicht.", hörte ich mich dann auf einmal sagen und seine weiße Miene erstarrte. Ich holte tief Luft, feucht rasselte sie in meine Lunge. „Wir werden uns wiedersehen. Aber es gibt da Dinge, um die ich mich davor kümmern muss. Allein." Der Kontakt erstarb endgültig. Ich wusste, er wollte mich nicht gehen lassen. Aber ich hatte schon genug geredet, genug gewartet, genug gezögert. 

Ich ließ Jeff zusammen mit meinem Herzen zurück. Seine Stirn war in sorgenvolle Falten gelegt. Doch dann begann sie sich langsam zu glätten und ein verschlagenes Grinsen vertrieb schließlich die letzten Reste von Zweifel aus seiner Mimik – Er wusste, irgendwann würde ich versuchen, es mir zurückzuholen. 

Nicht, dass er vorhatte, es mir je wieder zurückzugeben.

Tödliches Spiel (Jeff the Killer FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt